Weihnachten und Corona sind zwei Ereignisse, die es nicht miteinander können. Die aktuelle Situation offenbart, wie brüchig der Friede in unserer Wohlstandsgesellschaft ist. Und im persönlichen Umfeld, also in Familien, Beziehungen und unter Freunden.
Was sich in den letzten zwei Jahren immer weiter zuspitzte, kumuliert an diesen Festtagen: Das Virus offenbart schonungslos, wie dünn das soziale Fundament oft ist.
Die Konflikte, die in diesen Tagen besonders deutlich aufbrechen und sichtbar werden, erinnern mich an ein Sektenphänomen. Corona macht mit vielen Leuten, was Sekten und ein radikaler Glauben mit Betroffenen anstellen.
In beiden Fällen steht das Leben plötzlich auf dem Kopf. Biedere und unauffällige Menschen legen einen heiligen Furor an den Tag. Sie engagieren sich für eine Sache oder ein Interesse, die ihr Leben und ihr Bewusstsein von einem Tag auf den andern dominieren.
Der intensive Einsatz für einen religiösen Glauben oder den sozialpolitischen Kampf gegen Corona-Massnahmen führt zwangsläufig zur Radikalisierung und schliesslich zur Isolation. Denn der gemeinsame Nenner mit Freunden, Verwandten und Familienangehörigen, die ihnen nicht in ihre Parallelwelt folgen wollen, ist bald aufgebraucht. Es öffnen sich Fronten, Konflikte brechen auf, Gefühle erkalten und transformieren sich oft in Ablehnung, Unverständnis und nicht selten in Hass.
Das liess sich bisher exemplarisch beobachten, wenn eine Person in ein Sektenmilieu abrutscht. Die emotionale Basis mit dem bisherigen sozialen Umfeld zerbröckelt in kurzer Zeit. Es stehen sich zwei Welten gegenüber, die sich fremder nicht sein könnten. Nicht nur, was die Bewältigung des Alltags betrifft, sondern auch die Weltbilder und die geistige Ausrichtung.
Da die Wesensveränderung die zentralen und existenziellen Themen des Lebens betreffen, wird jedes Gespräch zum Hochseilakt und enthält Konfliktpotenzial. Treiber der Auseinandersetzungen sind die Radikalisierung im Denken, Handeln und Fühlen der Sektenanhänger, die geprägt sind durch Aberglauben und irrationale Reaktionen.
Eine gemeinsame Diskussionsbasis in entscheidenden Lebensfragen verflüchtigt sich, die rasche Entfremdung ist meist nicht mehr aufzuhalten. Die häufigste Aussage von Angehörigen lautet denn auch: Ich kenne meinen Sohn, meine Mutter, meine Partnerin oder meinen Freund nicht mehr.
Die Konflikte enden oft im Kontaktabbruch. Töchter und Söhne stellen ihre Eltern vor die Wahl, ihre Sekte zu akzeptieren und zu respektieren oder das Tischtuch endgültig zu zerschneiden. Noch dramatischer wird es bei Ehepaaren, wenn der Mann oder die Frau sich in sektenhafte Strukturen verstrickt. Es kommt in den allermeisten Fällen zur Trennung, auch wenn vorher die Beziehung auf einem soliden Fundament stand.
Eine ähnliche Entwicklung lässt sich bei radikalen Coronaleugnern, Impfverweigerern und Verschwörungstheoretikern beobachten. Ihre Intoleranz, Rechthaberei – als Laien wissen sie alles besser als die Zehntausenden Wissenschafter, die Coronaforschungen betreiben – und ihr Tunnelblick erinnern an Sektenanhänger.
Sie sehen in der Pandemiepolitik ein diktatorisches Gebaren der Politiker, Medien, Wissenschafter und wirtschaftlichen Eliten und beschwören in irrationaler Weise die weltweite Unterjochung und vielfältige Manipulation der Menschen herauf.
Sie sehen auch die zentralen Grundrechte und Freiheiten akut in Gefahr. Ungeachtet der Tatsache, dass sie bei uns in der Schweiz alle demokratischen Rechte wie Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Recht auf Unversehrtheit usw. beanspruchen können. Und sogar über die Corona-Massnahmen abstimmen und sich juristisch wehren dürfen.
Sie verwechseln ausserdem Gesundheitsmassnahmen zum Schutz der Bevölkerung mit der angeblich gezielten und vorsätzlichen Einschränkung der Grundrechte. Das sind ähnliche Realitätsverluste, wie sie bei Sektenanhängern zu beobachten sind.
Die Bruchlinie verläuft zwischen Geimpften und Nichtgeimpften, was sich an den Festtagen besonders deutlich manifestiert. Kann man sich im Alltag noch irgendwie durchwursteln und dem Konflikt ausweichen, gibt es an Weihnachten kein Entkommen, wenn Familien und Freunde das Fest der Liebe feiern wollen.
Die Gretchenfrage lautet in diesen Tagen: Wer kann noch mit wem, wer vertraut noch dem anderen? Konkret: Können Geimpfte und Ungeimpfte unter dem Christbaum gemeinsam die Gläser erheben? Können sie meist nicht, wie die Schilderungen in meinem näheren und weiteren Umfeld zeigen. Die Familien, die sich an Festtagen noch unbeschwert treffen können, sind wohl in der Minderheit.
Corona entzweit wie Sekten. Ungeimpfte schaffen es oft nicht einmal, sich der todkranken Mutter zuliebe impfen zu lassen. Impfprinzipien sind nicht selten stärker als die Liebe, auch unter Ehepaaren.
Exemplarisch dafür ist das Beispiel aus der Sendung Rundschau des Schweizer Fernsehens vom vergangenen Mittwoch. Eine Frau, die wegen Corona Streit mit ihrer Familie hat und isoliert ist, erklärte, sie werde sich nicht piksen lassen, selbst wenn die Impfpflicht eingeführt werden sollte.
Trotzig sagte sie: «Eine Busse werde ich nicht zahlen, dann gehe ich halt ins Gefängnis.» Sie glaubt zwar, man würde ihr mit den Massnahmen die Freiheit rauben. Doch sie geht lieber ins Gefängnis, als Bussgeld zu zahlen. Dabei ist das Eingesperrtsein in einer Zelle die wohl härteste Form des Freiheitsentzugs. Noch mehr: Sie nimmt die Pose der Märtyrerin ein. Das kennen wir fast nur von radikalen religiösen Milieus. Zum Beispiel von den Islamisten.
Noch einen drauf setzte ein Impfverweigerer aus meinem Bekanntenkreis. Er sagte, er bringe sich lieber um, als sich impfen zu lassen.
Da werden friedliche Festtage wirklich schwierig.