New Yorker sind ruppig und ungeduldig, so das Klischee. Geht es ums Essen, beweisen sie aber eine Engelsgeduld. So auch, als im Dezember letzten Jahres das Dim Sum Restaurant Tim Ho Wan in der East Village eröffnete. Noch Wochen später standen Dutzende bis zu 3.5 Stunden lang Schlange – trotz Minustemperaturen und Schneestürmen.
Tim Ho Wan ist nicht nur das erste Lokal der Kette auf amerikanischem Grund, sondern machte sich auch einen Namen als das billigste Restaurant mit einem Michelin-Stern: 2010 erhielt ihr Hongkonger Lokal die begehrte Auszeichnung. Seither gibt es weltweit 45 Restaurants – und weitere sollen folgen.
Im Ableger in New York kosten sämtliche Gerichte weniger als 5.50 Franken – na dann, nichts wie los!
«Tim Ho Wan» bedeutet «Glück hinzufügen» – und dieses ist mir am Mittwochabend hold. Wir betreten das Restaurant und warten keine zehn Minuten, bis uns ein Tisch zugewiesen wird.
Im Restaurant herrscht Hochbetrieb und das Ambiente erinnert mehr an einen Fast-Food-Diner als an einen Gourmet-Tempel: Das Personal wuselt zwischen den roten Ledersofas und den einfachen Holztischen umher, aus der offenen Küche dringt Lärm und der Geruch von Frittiertem zu uns.
Wir folgen den Empfehlungen der Kellnerin und bestellen die Klassiker, darunter die Baked BBQ Pork Buns, Congee (Reissuppe) und die Steamed Rice Roll with Minced Beef. In guter Fast-Food-Manier lässt das Essen nicht lange auf sich warten.
Wie es sich für Dim Sum gehört, trinke ich Tee zur Mahlzeit, der in der kantonesischen Tradition namens «yum cha» ursprünglich den Hauptbestandteil des Brunch bildete. Ich entscheide mich für den süssen Chrysanthemen-Tee, der mich im Geschmack an ein türkisches Dampfbad erinnert – und sehr gut schmeckt.
Die Gerichte kommen gestaffelt und schneller, als wir sie essen können. Mein lautstarkes Rätseln über die Zutaten veranlasst unsere Sitznachbarn dazu, uns die Speisen zu erklären – ganz im Stil der hilfreichen Amis. Zuerst zum allseits bekannten Liebling:
Aussen schön knusprig gebacken, die Füllung saftig und weich. Das Brötchen schmeckt ähnlich wie ein Scone und ist für meinen Geschmack zu süss. Die süss-klebrige Barbecue-Füllung mit Schweinefleisch schafft da keine Abhilfe. Unsere Sitznachbarn Jenny und Colin, beide gebürtige Chinesen, verraten uns, dass ihnen die Brötchen im Hongkonger «Tim Ho Wan» viel besser schmecken. Es geht weiter mit dem nächsten Gang:
Die Konsistenz der Suppe erinnert an Wackelpudding und Haferflocken zugleich. Geschmacklich kenne ich nichts Vergleichbares: Zuerst bin ich begeistert, nach einigen Löffeln wird mir das Ganze aber zu süss und die gelatineartigen, fauligen Eier ekeln mich ein wenig.
Spannend hingegen ist die Herstellung der «tausendjährigen Eier»: Während mehrerer Monate wird ein rohes Ei, meist ein Entenei, manchmal ein Hühnerei, in einem Brei aus Lehm, Asche, Salz, Kalk und Reishülsen (oder Stroh) eingelegt. Dabei ändern sich Farbe, Konsistenz und Geschmack des Eies: Eine chinesische Delikatesse ist geboren.
Auch hier sind wir froh um die Hilfe von Jenny und Colin: Dank ihnen lassen wir das Lotusblatt unangetastet und erfahren, dass die Füllung eine Mischung aus Schweine-, Rind- und Hühnerfleisch ist. Dieses Gericht ist mit Abstand mein liebstes und ein salziger Gegenpol zu den vielen süssen Speisen.
Ein weiterer Dim-Sum-Klassiker und für mich erneut eine Premiere: Reisnudelrollen, die mit Sojasauce gegessen werden. Aussen sind sie glitschig, aber mit Biss; innen ebenso. Geschmacklich top, mit einem Hauch von Thai Basilikum.
Exklusiv auf dem New Yorker Menu: Frittierte Frühlingsrollen, wie man sie kennt und liebt. Sehen aus wie frittierte Frühlingsrollen, schmecken wie frittierte Frühlingsrollen. Nichts besonderes.
Vor diesem kulinarischen Erlebnis meinte ich ja, dass «Dim Sum» ein Synonym für «Dumplings» sei. Ich bin froh, wurde ich eines besseren belehrt. Dennoch gehören Dumplings wie diese sicherlich zu meinen Favoriten des chinesischen Brunch.
Und wieder schlägt der Zucker zu. Viel zu süss ist mir dieser nach Karamell schmeckende Eierkuchen, der aber herrlich luftig ist.
Dieses Dessert ist die zweite New Yorker Exklusivität auf dem Menu. Denn die Chefköche und Gründer von Tim Ho Wan namens Mak Kwai Pui und Leung Fai Keung wissen: «Amerikaner lieben frittiertes Essen!»
Ich liebe es, neue Gerichte auszuprobieren und als gebürtige Amerikanerin liebe ich eigentlich auch alles, was süss ist. Michelin Stern hin oder her, an diese glitschigen, süss-salzigen Häppchen werde ich mich noch gewöhnen müssen. Immerhin ist der Preis von 30 Franken pro Person unschlagbar.