Am 24. Juni 2016 war er am Ende. Mit Tränen in den Augen sass Yves Welti, Lebemann, Versicherungsangestellter und Bitcoin-Hasardeur, auf dem Sofa seiner Grossmutter und erzählte ihr alles. Sie war die einzige Person, der er sich anvertraute. Und vielleicht auch die Einzige, die ihn verstand.
Innert zweieinhalb Jahren hatte er 180'000 Franken verloren, einen Schuldenberg von über 90'000 Franken angehäuft und als Nebeneffekt auch sein Leben ins Verderben geritten. Trotz fortlaufender Lohnzahlung konnte er nicht einmal mehr die Zinsen der Darlehen begleichen. Die Schuldenfalle war mit voller Wucht zugeschnappt.
Die Oma beschloss, ihm aus der Patsche zu helfen. Ein letztes Mal. Sie tilgte einen Teil der Schulden und rang dem Enkel ein Gelübde ab: Nie mehr Bitcoin-Zockerei mit Fremdkapital. Yves versprach es – und lief kurz darauf mit einem prall gefüllten Couvert aus der Bankfiliale. «Die dachten wohl, ich sei ein Enkeltrick-Betrüger», sagt er.
Dabei hatte alles so harmlos angefangen. Für eine Seminararbeit an der Uni recherchierte der damals 23-Jährige zum ersten Mal über Kryptowährungen. Das war im Herbst 2013, ein Bitcoin kostete 120 Franken. Ein paar Monate später war er selbst im Business: Mit einem Teil seines Ersparten kaufte er sich die ersten Bitcoins. Ein Kinderspiel. Schnell entdeckte er ein System, wie er das eingesetzte Geld scheinbar mühe- und risikolos vermehren konnte.
Das Zauberwort hiess «Arbitrage». Er kaufte die Bitcoins auf einer günstigen Plattform und verkaufte sie auf der teureren wieder. Das ergab einen Ertrag von rund 8 Prozent – pro Monat. Weil es so gut lief und er dazulernen wollte, schrieb er seine Bachelorarbeit zum Thema.
Wenig später traf das Worst-Case-Szenario ein. Eine der beiden Börsen ging Konkurs, ein Grossteil seines Kapitals war auf einen Schlag weg. Yves liess sich nicht entmutigen und lieh sich bei seinen Schwestern und seiner Grossmutter Geld. Viel Geld. Weil ein Blitz bekanntlich nicht zweimal an der gleichen Stelle einschlägt, betrieb er sein Arbitrage-System weiter.
Doch warum «nur» 8 Prozent gewinnen, wenn es doch viel mehr sein könnte? «Ich wurde schlicht und einfach zu gierig», bilanziert Yves heute. Beim sogenannten Margin- und Future-Trading ist der potenzielle Gewinn dank der Hebelwirkung x-fach höher – der Verlust aber auch.
Ein Beispiel mit Faktor 20: Wettet man darauf, dass der Kurs steigt und er tut es um 5 Prozent, verdoppelt man den Einsatz. Fällt er um 5 Prozent, ist alles weg. Beim volatilen Kurs von Kryptowährungen sind solche Geschäfte ein hochriskantes Spiel mit dem Feuer.
Das ging mal gut, mal schlecht. Und wenn schlecht, dann richtig. Bald schon war Yves komplett pleite. Die Grossmutter und die Schwestern getraute er sich nun nicht mehr anzupumpen. Also ab zum Kreditinstitut, das an jeder Strassenecke um Kundschaft wirbt. Dieses wusste nichts von seinen privaten Schulden und gewährte das Darlehen ohne viel Federlesens. Wir schreiben den Sommer 2015, das Zocken mit dem fiktiven Geld konnte weitergehen, als wäre nichts gewesen.
Wie bei jeder Sucht, denkt der Betroffene stets: Nur jetzt dieses eine Mal noch, dann höre ich auf. Doch mit jedem Verlust muss das Risiko vergrössert werden, um ihn möglicherweise wieder auffangen zu können. Das konnte nicht gut gehen. Das Fremdkapital war bald aufgebraucht, das Kreditinstitut gewährte eine weitere Tranche. Was er von seinem Lohn nicht für den bescheidenen Lebensunterhalt brauchte, ging für die Zinsen drauf.
Doch noch rollte der digitale Rubel – und zwar 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Alle zehn Minuten checkte Yves den Kurs des Bitcoins, ein Tab der Börsenwebseite war im Browser stets geöffnet. Er ging zwar weiterhin in den Unihockeyclub, schaute bei Trinkpausen aber aufs Handy.
Erzählt hat er niemandem etwas und wenn, dann nur bruchstückhaft. Nachts konnte er nicht einschlafen und wenn es doch gelang, wachte er mehrmals auf – teilweise auch, weil ein eigens eingerichteter Bitcoin-Alarm ihn über drastische Kursanstiege oder –verluste informierte. Drei Jahre lang habe er nicht mehr durchgeschlafen, erzählt Yves.
Stundenlang habe er in Echtzeit zugeschaut, wie sich der Kurs entwickelte und sei mehrmals mit dem Laptop auf den Knien eingeschlafen. «Ich war in dieser Zeit ein echter Zombie, man kann es nicht anders nennen», sagt er. Seine damalige Freundin habe ihm eines Tages ein Ultimatum gestellt – sie oder die Bitcoins. Yves zockte heimlich weiter.
Zu Geld habe er ein schizophrenes Verhältnis entwickelt: Beim Einkaufen habe er weiterhin auf Aktionen geschaut, obwohl er, bis er an der Kasse war, möglicherweise hunderte oder gar tausende Franken reicher war. «Wer mit Kryptowährungen handelt, sollte sich bewusst sein, dass man innerhalb von wenigen Tagen mehrere Jahreslöhne gewinnen, aber eben auch verlieren kann», sagt Yves.
So im Frühling 2016: Dank richtig getippter Kursentwicklung «machte» er innert vier Wochen aus 5000 Franken zuerst 40'000 und dann 135'000 Franken. Die 270 Bitcoins, die er zu diesem Zeitpunkt besass, hätten heute einen Gegenwert von rund vier Millionen Franken. Hätten, wären. Die Realität sah anders aus.
Drei Tage später war alles wieder weg – und Yves sass schluchzend auf besagtem Sofa seiner Oma. Das Spiel war aus. «Ich dachte, die nächsten Jahre damit zu verbringen, Schulden abzubezahlen», sagt er.
Es kam anders. Trifft man Yves heute, fährt er mit einem Lotus vor. Ein Bubentraum, gekauft mit Bitcoins. Und das ist nur der Vorgeschmack. Der plötzliche Reichtum ist mit einer Zahl erklärbar: 2017. Der Bitcoin-Kurs explodierte im letzten Jahr derart , dass man mit einer konservativen Strategie eigentlich fast nur gewinnen konnte. Denn das Versprechen, das er seiner Grossmutter abgegeben hatte, wollte Yves nicht brechen. Fremdkapital nahm er also nicht mehr auf. Vom Zocken konnte er die Finger aber nicht lassen.
Er hätte sich nicht verzeihen können, so lange auf eine Kursexplosion zu warten, nur um sie dann zu verpassen, wenn sie da ist. Was er vom eigenen Lohn entbehren konnte, investierte er also weiterhin – nun aber ohne übertriebene Hebelwirkung. Er machte sich einen langfristigeren Investitionsplan und rannte nicht mehr jeder Kursveränderung nach.
Vor allem aber hatte er das Glück, dass 2017 das Jahr war, in dem auch Otto Normalverbraucher begann, Bitcoins zu kaufen. Das katapultierte den Kurs in ungeahnte Höhen. Ohne grosses Zutun hatten Yves Bitcoins plötzlich einen Wert von 400 000 Franken und einige Monate später über eine Million.
Der vordefinierte Meilenstein war längst erreicht, er liess sich 250'000 Franken auszahlen. Bingo! Aus dem Spielgeld wurde über Nacht echtes und lag jetzt auf seinem Bankonto. Unberührt und greifbar, als wäre nie etwas gewesen. Yves musste zweimal hinschauen, als im E-Banking der Kontostand aufblitzte.
Endlich konnte er nun sämtliche Schulden bei seiner Grossmutter begleichen. Der Rest reichte immer noch locker für den Rennwagen und eine besonders seltene Kartenkombination seines früheren Lieblingsspiels «Magic the Gathering». Alleine für die Spielkarten liess er 20'000 Franken liegen, weitere 7000 gingen für das Nummernschild «ZH 900900» drauf.
Zeigen solche Käufe nicht, dass er längst abgehoben ist und keinen Bezug mehr zu ehrlich verdientem Geld hat? «Es hat schon was. Wenn man in jungen Jahren so viel verdient hat, verliert Geld an Stellenwert», sagt er. Er lebe aber immer noch in einer bescheidenen WG und übernehme einen Grossteil der Miete seines Mitbewohners.
Zudem wolle er etwas an die Allgemeinheit «zurückgeben». So tüftelt er derzeit an der Idee, wie man Autoren von Onlinebeiträgen – etwa in Foren oder bei Enzyklopädien – mit einem Mikropayment-System für ihren Aufwand entschädigen könnte.
Yves nimmt einen Schluck Tee. Das Handy hat er in den letzten zwei Stunden nie angeschaut, obwohl er immer noch Kryptogeld im Wert von über einer Million Franken besitzt. Die genaue Summe ändert jede Stunde – und Yves will sie auch nicht in der Zeitung lesen. Bei einem Börsencrash vor Weihnachten erlitten seine Bitcoins einen Buchverlust von einer Summe, welche die meisten Menschen im Land nie auch nur annähernd besitzen werden.
Doch die Kursschwankungen lassen ihn mittlerweile unberührt, er schläft in der Nacht durch. Sogar wenn der Kryptomarkt völlig zusammenbrechen würde – woran er nicht glaubt –, würde ihn das nicht mehr aus der Bahn werfen. Zu viel Geld hat er damit schon verdient. Und zu viel Glück hat er seit jenem schicksalhaften Nachmittag auf dem Sofa der Grossmutter schon in Anspruch genommen.
Von Autos, Yves gibt es unumwunden zu, habe er eigentlich nicht viel Ahnung. Der Lotus gefalle ihm halt einfach optisch. Dass dieser Blicke anzieht – alleine beim zwanzigminütigen Fototermin im Zürcher Kreis 5 zückt ein halbes Dutzend Passanten die Handykamera –, sei «schon noch geil».
In Beziehungssachen könne es aber auch zum Nachteil gereichen. Er wolle schliesslich keine Partnerin, die nur aufs Materielle aus sei, sagt er. So liess er den Sportwagen beim ersten Date mit der aktuellen Freundin in der Garage. Und fuhr mit dem Roller vor.