Am Samstagabend schlug die israelische Luftwaffe zu: Mehr als zehn F15- und F35-Kampfjets bombardierten in der «Operation langer Arm» Öl- und Stromanlagen im jemenitischen Hafen Hudaida am Roten Meer – rund 1800 Kilometer von Israel entfernt. Es war das erste Mal, dass die israelischen Streitkräfte die proiranische Huthi-Miliz im Jemen direkt angriffen.
New Footage showing yesterday’s Strikes by the Israeli Air Force on the Port of Al-Hudaydah in Western Yemen, with the First Volley of Missiles seen Striking the Port while the Second Volley is seen Impacting the adjacent Oil Depot which Immediately Erupts into a Fireball. pic.twitter.com/y8YzgEbWTE
— OSINTdefender (@sentdefender) July 21, 2024
Gleichwohl kam der Angriff nicht völlig überraschend: Nachdem am Freitag eine Kampfdrohne aus dem Jemen in Tel Aviv eingeschlagen und einen Mann getötet hatte, war ein Vergeltungsschlag des israelischen Militärs absehbar. Zwar hatte die Huthi-Miliz seit Beginn des Gaza-Kriegs im Oktober bereits Hunderte von Drohnen und ballistischen Flugkörpern auf den jüdischen Staat abgefeuert, doch diese hatte die israelische Luftabwehr allesamt abgefangen.
Satellite Imagery by Maxar of the Port of Al-Hudaydah in Western Yemen show much of it in Total Ruin after yesterday’s Strikes by the Israeli Air Force, with Dozens of Storage Tanks filled with Millions of Gallons of Fuel and Oil still in Flames. pic.twitter.com/aSemyTC6Il
— OSINTdefender (@sentdefender) July 21, 2024
Mit der direkten Konfrontation der Huthi-Miliz kämpft die israelische Armee nunmehr an drei verschiedenen Fronten gegen islamistische Organisationen, die mit dem Mullah-Regime in Teheran verbündet sind: Neben den Huthis im Jemen sind dies die Hamas im Gazastreifen und die Hisbollah im Libanon. Wie gross ist dadurch die Gefahr eines Flächenbrandes in Nahost? Welche Ziele verfolgen die Kontrahenten – und welche Rolle spielt der Iran?
Die Rhetorik der Akteure ist – wie eigentlich immer in solchen Fällen – scharf. Abdel-Malik al-Huthi, der Anführer der Huthi-Miliz, kündigte im Fernsehsender al-Masirah eine neue Phase im Kampf gegen Israel an. Beim Drohnenangriff auf Jaffa – der Huthi-Chef sprach nicht von Tel Aviv, sondern von der arabischen Stadt, die vor der jüdischen Siedlung bestand und darin aufgegangen ist – handle es sich um eine «neue Stufe der Eskalation». Al-Huthi fügte hinzu: «Wir sind sehr glücklich über unseren direkten Kampf mit dem israelischen Feind.» Die Huthi-Miliz verbessere ihre Fähigkeiten laufend und sei nun «stärker als zuvor». Der israelische Angriff auf Hudaida werde weitere Aktionen gegen Israel nach sich ziehen, drohte er.
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wiederum erklärte, der Gegenschlag im Jemen mache «unseren Feinden klar, dass es keinen Ort gibt, den der lange Arm Israels nicht erreichen wird». Er bezeichnete die Huthi-Miliz als integralen Bestandteil der iranischen «Achse des Bösen», zusammen mit der Hamas und der Hisbollah.
«Das Feuer, das jetzt in Hodeida brennt, sieht man überall im Nahen Osten. Es sendet ein klares Signal», sagte der israelische Verteidigungsminister Joaw Galant. Er drohte: «Als die Huthis das erste Mal einem israelischen Staatsbürger Schaden zufügten, schlugen wir gegen sie zu. Und wir werden das an jedem Ort tun, an dem es erforderlich ist.» Das wüssten nun alle im Libanon, in Gaza, im Jemen und anderswo. «Wer es wagt, uns anzugreifen, bekommt dieselbe Antwort», bekräftigte Galant.
The fire that is currently burning in Yemen is seen across the Middle East. The blood of Israeli citizens has a price. pic.twitter.com/r3Aq3GNl1J
— יואב גלנט - Yoav Gallant (@yoavgallant) July 20, 2024
Aus Teheran ertönte eine Warnung an die Adresse Israels und seiner Unterstützer, etwa der USA: Sie würden für «unvorhersehbare und gefährliche Folgen» des Gaza-Kriegs und der Angriffe auf den Jemen «direkt verantwortlich sein», sagte Nasser Kanaani, Sprecher des iranischen Aussenministeriums. Kanaani warnte, Israels «gefährliches Abenteurertum» könne einen regionalen Krieg auslösen. Die Hisbollah-Miliz stiess ins selbe Horn, kritisierte den israelischen Luftschlag scharf und bezeichnete ihn als «törichten Schritt». UNO-Generalsekretär Antonio Guterres rief derweil «zur äussersten Zurückhaltung» auf.
Allen scharfen Worten zum Trotz: Die neuerliche Eskalation zwischen der Huthi-Miliz und Israel ist wohl kein Funke, der einen verheerenden Krieg entzünden könnte. Dies liegt auch daran, dass die Huthis nicht über die militärische Kapazität verfügen, Israel ernsthaft zu gefährden, auch wenn ihre Kämpfer besser ausgebildet und bewaffnet sind als jene der Hamas.
Zwar reagierte die Miliz offenbar bereits mit einem Raketenangriff auf den israelischen Luftschlag, doch die Boden-Boden-Rakete wurde laut dem israelischen Militär mit dem Abwehrsystem Arrow 3 zerstört, das Geschosse ausserhalb der Atmosphäre treffen kann. Dass eine Huthi-Drohne erstmals Tel Aviv erreichte, dürfte auf ein Versagen der israelischen Luftabwehr zurückzuführen sein.
Die Huthi-Miliz hat zwar Erfahrung mit der Drohnen- und Raketen-Kriegsführung – 2019 griff sie mit Marschflugkörpern und Drohnen die saudi-arabische Ölinfrastruktur an. Doch der ehemalige jordanische General Fayez El Doueiri sagte laut der ARD-Tagesschau im Fernsehsender Al-Jazeera, Israel verfüge über genügend Fähigkeiten, Drohnen und Raketen abzuwehren – auch dank der amerikanischen und britischen Unterstützung. «Die Huthis werden zwar versuchen, eine Antwort auf Israels Angriff zu finden, aber der Erfolg wird überschaubar bleiben», prognostizierte er.
Andererseits haben sich bisher die Huthis, die seit dem Ausbruch des Gaza-Kriegs den internationalen Handelsverkehr im strategisch wichtigen Roten Meer durch Angriffe auf Tanker und Frachtschiffe erheblich stören, durch amerikanische und britische Luftschläge nicht abschrecken lassen. Die Miliz, die mehr als die Hälfte des Jemen kontrolliert, kooperiert auch zunehmend mit anderen islamistischen Milizen. Dies gilt vornehmlich für die Hisbollah, von der sie ausgebildet und unterstützt wird und die ihr als Vorbild dient.
Doch die Huthis arbeiten auch mit dem sogenannten Islamischen Widerstand im Irak zusammen, einer vom Iran unterstützten Islamistenmiliz. Zumindest behauptete der Militärsprecher der Huthis laut Al-Jazeera, man habe mit dieser irakischen Gruppe im Juni eine koordinierte militärische Operation gegen vier Schiffe im israelischen Hafen Haifa durchgeführt. Das israelische Militär ging nicht auf diese Behauptung ein, erklärte aber, es sei eine Drohne abgeschossen worden, die sich Israel von Osten her näherte.
Israel wiederum besitzt mit seiner effizienten Luftwaffe zwar die Fähigkeit, auch über grosse Entfernungen zuzuschlagen – was es bereits in den 80er-Jahren mit dem Angriff auf den irakischen Atomreaktor Osirak unter Beweis gestellt hat. Doch mehr als Luftschläge sind gegen die Huthis im weit entfernten Jemen nicht möglich.
Der Angriff auf eine strategische Ölraffinerie im Jemen war denn auch nicht nur an die Adresse der Huthis gerichtet, sondern vor allem an Teheran, wie die Energieexpertin Morielle Lotan in der «Jerusalem Post» schreibt. Die unmissverständliche Botschaft: Israel kann die kritische iranische Ölinfrastruktur treffen. Wenn nämlich israelische Jets Hudaida bombardieren können, dann ist die näher gelegene iranische Insel Charg im Persischen Golf ebenfalls erreichbar. Dort befindet sich das wichtigste iranische Erdölterminal, über das ein Grossteil der Rohölexporte des Landes abgewickelt wird.
Freilich befindet sich der jüdische Staat, der mit neun Millionen Einwohnern kein demografischer Riese ist, derzeit in einer Situation, in der seine militärischen Ressourcen zusehends überdehnt sind. Es ist fraglich, ob die israelischen Streitkräfte auf längere Frist in der Lage wären, neben dem andauernden Krieg gegen die Hamas in Gaza und der Kontrolle des besetzten Westjordanlandes etwa noch einen Angriff der Hisbollah im Norden abzuwehren oder deren gut ausgebaute Stellungen im Südlibanon anzugreifen.
Israel sieht sich daher in einer verzwickten Lage, in der es von den mit dem Iran verbündeten Milizen durch ständige Nadelstiche zermürbt wird. So hat die Hisbollah sofort nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober damit begonnen, Häuser und Militärstellungen im nördlichen israelischen Grenzgebiet zum Libanon zu beschiessen. Rund 50'000 Israelis mussten deshalb das Gebiet verlassen und konnten noch nicht zurückkehren; ihre leeren Häuser werden von der Hisbollah systematisch mit Panzerabwehrraketen zerstört.
Die nördliche Front bindet deshalb namhafte israelische Truppenkontingente, auch wenn bisher sowohl die Hisbollah – die über ein riesiges Raketenarsenal verfügt – als auch Israel vor einem regelrechten Krieg zurückgeschreckt sind. Die israelischen Erfahrungen aus der Bodenoffensive gegen die Hisbollah 2006 raten zur Vorsicht.
Dazu kommt, dass es der israelischen Armee auch nach nahezu zehn Monaten Krieg im Gazastreifen immer noch nicht gelungen ist, den Widerstand der Hamas vollständig zu brechen. Nach wie vor ist die Terrormiliz in der Lage, Raketen auf Israel abzuschiessen – selbst aus Gebieten, die zuvor als «gesäubert» galten. All dies dürfte Israel davon abhalten, weiter an der Eskalationsschraube zu drehen.
«Auf einer Landkarte betrachtet scheinen die Bedrohungen, denen der jüdische Staat ausgesetzt ist, aus allen Himmelsrichtungen zu kommen. Aber wenn man sie zu ihrer Quelle zurückverfolgt, führt jede zu derselben Adresse», schrieb der israelische Historiker Benny Morris im vergangenen Dezember in einer Analyse. Die Adresse, die er meint, ist Teheran. Und der Stabschef der israelischen Armee, Herzi Halevi, sagte nach dem Huthi-Angriff auf Tel Aviv: «Alles ist miteinander verbunden. Es ist alles Iran. Diese Drohne ist iranisch. Die Huthis haben sie genommen, aufgerüstet und ihre Reichweite erhöht ... Wir operieren mit grosser Entschlossenheit gegen den Iran. Letztendlich ist er ein Krake, er hat viele Arme, man kämpft mit einem Arm hier, man kämpft mit anderen dort ...»
Zwar zweifelt kaum jemand daran, dass die Islamische Republik, die seit ihrer Gründung nach der Revolution von 1979 eine unerbittliche Feindschaft gegen den jüdischen Staat hegt, die antiisraelischen Milizen unterstützt und mit Waffen beliefert. Doch das heisst nicht, dass diese Gruppen lediglich Marionetten der Mullahs sind. So dürfte der Angriff der Hamas am 7. Oktober nicht aus Teheran befohlen worden sein, und auch die Drohnenattacke der Huthis ist vermutlich nicht auf Anordnung der Mullahs erfolgt.
Diese Milizen haben durchaus ihre eigenen Interessen, und es ist ungewiss, wie strikt sie Vorgaben aus Teheran befolgen. Die sunnitische Hamas unterhält wohl eher ein Zweckbündnis mit der schiitischen Vormacht, und bei den schiitischen Huthis gibt es Anzeichen dafür, dass sie nicht direkt dem iranischen Kommando- und Kontrollsystem unterstehen. Am engsten dürfte die ebenfalls schiitische Hisbollah mit dem Iran verbunden sein.
Auch wenn sich die Lage seit dem Schlagabtausch zwischen der Huthi-Miliz und Israel sicherlich noch weiter verschärft hat, ist die Furcht vor einem unmittelbar bevorstehenden Flächenbrand in der Region wohl übertrieben. Ähnliche Befürchtungen nach dem direkten iranischen Angriff auf Israel mit mehr als 300 Drohnen, Marschflugkörpern und Raketen im April bestätigten sich beispielsweise nicht, obwohl Israel auch damals mit einem Gegenschlag auf diese im Vergleich zur Huthi-Drohne weitaus massivere Attacke reagierte.
Die beiden verfeindeten Staaten versuchten zwar, mit ihren Angriffen Stärke zu beweisen, achteten indes zugleich darauf, den Gegner nicht zu sehr in eine Ecke zu drängen. So sollen die Iraner ihre Nachbarländer vor dem Angriff vorgewarnt haben, was wohl dazu beitrug, dass die allermeisten ihrer Geschosse abgefangen wurden. Zudem hielt die Hisbollah im Libanon, die mit dem Iran verbündet ist und über ein gewaltiges Raketenarsenal verfügt, sich auffallend zurück. Der israelische Gegenangriff auf eine Luftwaffenbasis bei Isfahan wiederum blieb vergleichsweise moderat; er sollte dem Mullah-Regime vor allem zeigen, dass die israelische Luftwaffe auch Ziele tief im Inneren des Iran zu treffen vermag.
Dennoch standen die beiden Regionalmächte damals so knapp vor einem Krieg wie nie zuvor. In der Regel vermeiden sie jedoch direkte Attacken auf den Gegner. Der Iran nutzt seit vielen Jahren – und mit zunehmendem Erfolg – seine verbündeten Milizen, um die israelische – und amerikanische – Position im Nahen Osten zu untergraben. Diese Stellvertreter führen einen asymmetrischen Krieg gegen den ihnen verhassten jüdischen Staat, dessen hochgerüstete Armee sie in einer offenen Konfrontation kaum schlagen können.
Die Kampfhandlungen in diesem asymmetrischen Krieg bergen zwar stets die Gefahr, dass von ihnen eine Eskalation zu einem grösseren Krieg ausgehen kann. Vergessen geht dabei aber oft, dass etwas anderes einen verheerenden Krieg zwischen Israel und dem Iran entfesseln könnte: der iranische Griff nach der Bombe. Nach amerikanischen Angaben ist das Land nur noch eine oder zwei Wochen davon entfernt, «die Fähigkeit zur Herstellung von spaltbarem Material für eine Atomwaffe zu erlangen».
Da das Mullah-Regime offen davon spricht, die «zionistische Entität» von der Landkarte fegen zu wollen, ist die Vorstellung für jede Regierung in Jerusalem unerträglich, dass Teheran über die Bombe verfügen könnte. Israel, das selbst seit den Sechzigerjahren über eine Anzahl von Nuklearsprengköpfen verfügt, könnte versucht sein, die iranischen Atomanlagen anzugreifen, bevor es zu spät ist. Was ein solcher Schritt für den bereits jetzt instabilen und von Kriegen und Konflikten gebeutelten Nahen Osten bedeuten würde, möchte man sich gar nicht erst ausmalen.