Noch am 19. November 2017 schien die Welt der kosovarischen Oppositionspartei Vetëvendosje (albanisch für Selbstbestimmung) in Ordnung zu sein: Shpend Ahmeti schaffte im zweiten Wahlgang hauchdünn die Wiederwahl als Bürgermeister der Hauptstadt Pristina. Ein wichtiger Wahlsieg: Mit seiner skandalfreien und kompetenten Regierungsführung in der grössten Stadt des Landes hatte Ahmeti seit 2013 wesentlich dazu beigetragen, Vetëvendosje für breite Wählerschichten wählbar zu machen.
In Pristina bewies die links-nationalistische Oppositionspartei, dass sie mehr konnte als mit Tränengas im Parlament Fundamentalopposition gegen die als korrupte Kollaborateure bezichtigten Regierungsparteien zu machen. Auch in der zweitgrössten Stadt Prizren eroberte sie im letzten November das Bürgermeisteramt. Davor hatte Vetëvendosje bei den Parlamentswahlen im Juni 2017 den Stimmenanteil mehr als verdoppeln können und war mit über 27 Prozent zur stärksten Partei des Landes geworden.
Weil sich die traditionellen Parteien der ehemaligen Kommandanten der Kosovarischen Befreiungsarmee UÇK mit den Parteien der serbischen Minderheit verbündeten, blieb Vetëvendosje jedoch in der Opposition. Ihr Anführer Albin Kurti musste seinen Traum, Regierungschef zu werden, vorerst begraben.
Weniger als vier Monate nach dem Wahlsieg in der Hauptstadt steht Vetëvendosje nun vor dem Kollaps. Am Mittwochabend gab Pristinas Bürgermeister Sphend Ahmeti bekannt, die Partei zu verlassen. Die Gründe, für die er einst der Partei beigetreten waren, seien heute nicht mehr gegeben. Damit eskaliert der Streit innerhalb der Opposition endgültig, der im Dezember 2017 erstmals zu Tage getreten war.
Damals wurde eine Konversation auf der Message-App Viber publik, in der sich parteiinterne Gegner abfällig über Albin Kurti äusserten, den charismatischen Gründer der Bewegung. Seine Parteifreunde beklagten sich über dessen autoritären Führungsstil. Eine Parlamentarierin bezeichnete ihn als «Stück Scheisse». Weil sich Kurti zu diesem Zeitpunkt aufgrund eines Tränengas-Wurfs im Parlamentssaal in Untersuchungshaft befand, kam es nicht zu einer sofortigen Aussprache.
Nach seiner Freilassung im Januar 2018 liess er sich zum Parteivorsitzenden wählen – obwohl ihn seine Kritiker gebeten hatten, einen Reformprozess zuzulassen und zunächst aufs Amt zu verzichten. Kurti war zwar 2017 Spitzenkandidat bei den Parlamentswahlen gewesen, aber hatte keine formelle Führungsfunktion in der Partei.
In der Folge wurden einige von Kurtis parteiinternen Gegnern zum Austritt gedrängt, manche traten aus Protest über dessen Führungsstil und andere Entwicklungen bei Vetëvendosje von ihren Parteiämtern zurück. Darunter ist Faton Topalli. Der in Dörflingen im Kanton Schaffhausen wohnhafte schweizerisch-kosovarische Doppelbürger sitzt seit 2014 im kosovarischen Parlament.
«Die Partei wurde zentralistisch geführt. Es gab wenig Platz für andere Meinungen», kritisiert Topalli. Wer eine solche äusserte, sei zum Feind der Partei erklärt worden. Parteistrukturen hätten nur formell und die parteiinterne Demokratie nur mangelhaft funktioniert. Aus Topallis Antwort wird klar, wen er dafür verantwortlich macht. Albin Kurti sei zwar eine charismatische Figur: «Aber das reicht nicht, um ein guter Politiker zu sein», kritisiert Topalli. Kurti sei die zentrale Figur der aktuellen Krise. «Er steht über allem: über der Partei, über der Führung, über dem Programm.»
Die in Pristina lebende Politologin Luljeta Aliu formuliert zurückhaltend, dass man die «gegenwärtige Krise nicht einem Einzelnen zuweisen kann». Es habe auf jeden Fall Missverständnisse und «interne Kommunikationsprobleme» gegeben, so Aliu, die als 13-Jährige in die Schweiz geflüchtet war und einen Masterabschluss der Universität Zürich hat. Die neuesten Entwicklungen seien eine «kalte Dusche» für Vetëvendosje. Parteispaltungen seien im Kosovo nichts Aussergewöhnliches. Dass eine solche nun auch bei der lange sehr geeint auftretenden Vetëvendosje droht, findet Aliu dennoch «überraschend».
Für Aliu gibt es im aktuellen Konflikt keine Hinweise auf einen «essentiellen ideologischen Streit». Parlamentarier Faton Topalli sieht das anders. Er und weitere Vertreter des Reformflügels kritisieren unter anderem die Fundamentalopposition, welche die Partei betrieben habe: «Es mangelt am Willen, im Interesse des Landes Kompromisse einzugehen.» Dazu gehört für ihn die Bereitschaft, mit Serbien einen Dialog über bestehende Probleme zu führen.
Die Führung um Kurti habe alle möglichen Wählergruppen anzusprechen versucht, um damit mittelfristig «das illusorische Ziel» einer absoluten Mehrheit zu erreichen. Mit dem Wachstum sei die Partei deshalb zu einem Sammelbecken für alle Unzufriedenen geworden: «Die Türe wurde allen geöffnet, von Ultrarechten über Ultranationalisten bis zu Ultralinken.» Diese Öffnung sei zum Nachteil der Werte und Normen geschehen, auf deren Grundlage Vetëvendosje gegründet worden ist. «Ich vertrete sozialdemokratische Werte. Die Kombination von Nationalismus und Sozialismus macht mir Angst», sagt Topalli.
Der Politologe Arben Hajrullah von der Universität Pristina beschreibt die Entwicklung ähnlich. Im politikwissenschaftlichen Jargon ausgedrückt, habe sich Vetëvendosje als «Catch all party» zu positionieren versucht. Sie versuchte, Wähler aller politischen Lager anzusprechen. «Vetëvendosje hat zu schnell zu viel geschluckt. Das führt jetzt zu Verdauungsproblemen», lautet Hajrullahs Fazit.
Seine Berufskollegin Luljeta Aliu geht davon aus, dass die jüngsten Entwicklungen die Opposition «zumindest vorübergehend schwächen». Das gebe der Regierungskoalition der ehemaligen Kommandanten mehr Manövrierraum, um ihre Interessen zu verfolgen.
Eine endgültige Spaltung scheint unausweichlich. Faton Topalli kündigt an, dass er und andere Vetëvendosje-Abgeordnete «mit grosser Wahrscheinlichkeit» eine neue Fraktion gründen werden. Mindestens elf von 37 Parlamentariern seien unzufrieden mit dem derzeitigen Kurs, sagt Topalli. «Die neue Gruppe wird eine sozialdemokratische Partei sein, wie man sie aus westlichen Ländern kennt.»
Topalli ist überzeugt, dass eine solche neue Partei für eine Verbesserung der Lebensbedingungen im Kosovo sorgen könne: «Die Menschen hier brauchen eine Politik, die Veränderungen ermöglicht und keine leeren Hoffnungen und Versprechen». Dafür müsse man mit anderen Parteien und allen ethnischen Minderheiten zusammenarbeiten. Länder, die im Interesse der Gemeinschaft Kompromisse gemacht haben, hätten damit Fortschritte erzielt: «Die Schweiz mit ihrer Konkordanz gehört sicher dazu.»