Nach dem Beginn der Grossoffensive der irakischen Armee gegen die Terrormiliz «IS» in West-Mossul am Wochenende wird die Lage für eine dreiviertel Million Einwohner immer dramatischer. Die Preise für Lebensmittel sind in der belagerten Stadt explosionsartig gestiegen. Viele Familien müssen Möbel und Kleidung verbrennen, um sich aufzuwärmen. Wer flüchtet, riskiert, von den Terroristen erschossen zu werden.
Einer, der es gewagt hat, ist Karim (Name geändert). Mit seinen fünf Kindern im Alter von acht Monaten bis 7 Jahre ist er vergangene Woche im Flüchtlingslager Al-Hol jenseits der Grenze zu Syrien in kurdisch kontrolliertem Gebiet angekommen. Der Kinderrechtsorganisation Save the Children hat er seine bewegende Geschichte erzählt:
«Ich habe drei Schwestern, die mit ihren Ehemännern und Kindern im Westen Mossuls leben, der noch immer vom ‹IS› kontrolliert wird. Ich hatte zuletzt vor 10 Tagen mit ihnen Kontakt, als ich ihnen am Telefon mitteilte, dass ich mit meiner Familie nach Syrien flüchten werde. Sie weinten, weil sie wissen, dass die Fluchtwege vermint sind und sie fürchteten um unser Leben. Meine Schwestern leben unter prekären Bedingungen. Es gibt dort nicht mehr viel, kein Brot, kein Wasser, keine Nahrungsmittel. Sie haben kleine Kinder im gleichen Alter wie meine.»
«Meine Schwestern haben mir viel erzählt. Sie leben von Vorräten, die aber nur noch für einen Monat reichen werden. Sie haben Angst zu verhungern, sollte die Belagerung noch länger andauern. In anderen Stadtteilen seien die Menschen noch schlechter dran. Sie essen Katzen, um zu überleben.»
«Auch mein Onkel lebt im Westteil der Stadt. Er hat mir am Telefon gesagt, dass die Menschen angefangen haben, aus Verzweiflung zu betteln. Sie klopfen an Türen und bitten um einen Happen Essen. Er sagt, falls die Gebiete weiter unter der Kontrolle des ‹IS› bleiben, wird dasselbe passieren wie in Madaja in Syrien. Sie werden verhungern. Es gibt weder Ärzte noch Lebensmittel. Kein Mehl, Bulgur, Reis, Milch. Auf dem Markt gibt es noch etwas, aber niemand hat Geld.»
«Die Gesundheitsversorgung ist zusammengebrochen. Wer krank wird, stirbt. Ausser Decken haben die Menschen nichts gegen die Kälte. Seit vier Monaten sind keinerlei Güter mehr hereingekommen. Früher konnte mein Onkel die Stadt arbeitshalber verlassen und zurückkommen, aber das geht jetzt nicht mehr. Die Gegend ist umstellt und es gibt keinen Ausweg. Die Strassen sind gesperrt und wer versucht zu flüchten, wird getötet.»
«Für den Moment sind meine Schwestern sicher, aber ehrlich gesagt weiss ich nicht, ob ich sie jemals wiedersehen werde. Vor zehn Tagen schlugen fünf Granaten in der Nähe eines ihrer Häuser ein. Ihnen ist nichts passiert, aber sie hatten entsetzliche Angst. Ich habe gehört, dass bald Luftangriffe einsetzen werden. Sie hoffen, dass die irakische Armee die Stadt bald einnimmt und sich der ‹IS› zurückzieht.»
«Vor zwanzig Tagen versuchten einige meiner Verwandten den Westteil Mossuls zu verlassen. Laut meinem Onkel versuchten sie Qayyara [30 Kilometer südlich von Mossul] zu erreichen, das von der irakischen Armee kontrolliert wird. Sie wurden erwischt und vom ‹IS› auf der Stelle getötet. 20 Personen einschliesslich Frauen und Kinder. ‹IS›-Kämpfer lauerten ihnen nachts auf und erschossen sie.»
Wer früher beim Verlassen der Stadt erwischt wurde, zahlte eine Busse und wurde vom ‹IS› zurückgeschickt. Seit die Belagerung begann, töten sie jeden, der es versucht. Ich kenne sonst niemanden, der es versucht hat. Die Leute haben zuviel Angst. Sie töten alle, auch Frauen und Kinder.
«Es ist schwierig, meine Familie in Mossul zu erreichen, denn Mobiltelefone sind verboten. Wer mit einer SIM-Karte erwischt wird, wird bestraft. Es gibt keine Netzabdeckung, es sei denn man versucht es an einem höher gelegenen Punkt. Das letzte Mal, als ich mit einer meiner Schwestern sprach, war sie auf dem Dach ihres Hauses. Sie hatte Angst, denn über ihnen schwirren Drohnen, die das Netzwerk überwachen. Solche Telefongespräche sind verboten. Die Lage ist schrecklich.»