James Carville gilt in den USA als Wahlkampf-Guru. Er hatte 1992 den Wahlsieg von Bill Clinton gegen George Bush den Älteren orchestriert und den legendären Slogan «It’s the economy, stupid» (es ist die Wirtschaft, Dummkopf) geprägt. In wenigen Tagen wird der kantige Cajun aus Louisiana 80 Jahre alt, doch seine Expertise ist weiterhin gefragt.
Kürzlich sei er in Manhattan von ängstlichen New Yorkern angefleht worden, eine Prognose zum Ausgang der Präsidentschaftswahl in zwei Wochen abzugeben, sagte Carville gegenüber NBC News: «Sie glaubten tatsächlich, ich hätte eine Art Geheimwissen.» Doch James Carville konnte ihnen nichts bieten. Er ist so ratlos wie viele Amerikaner.
Das Rennen zwischen Kamala Harris und Donald Trump ist buchstäblich auf Messers Schneide. Obwohl die Tiraden des Republikaners gegen die demokratische Vizepräsidentin und Migranten immer aggressiver und abstossender ausfallen, hat er in den Umfragen aufgeholt. Kaum ein seriöser Analyst wagt eine Prognose des Wahlausgangs.
In der Simulation des «Economist» hat Trump beim Electoral College erstmals seit zwei Monaten die Führung übernommen. Das britische Magazin gibt ihm eine Siegeschance von 54 Prozent. Fast identisch ist die Bewertung durch den Statistiker Nate Silver. Aber auf die Frage, wer es am 5. November schaffen wird, kann oder will Silver keine Antwort geben.
Das Problem sind die sieben Bundesstaaten, die als Swing States die Wahl entscheiden dürften: Arizona, Georgia, Michigan, Nevada, North Carolina, Pennsylvania, Wisconsin. Überall zeichnet sich ein ultraknappes Rennen ab, liegen die Vorsprünge in den Umfragen im Bereich der Fehlermarge. Es kann also noch immer in beide Richtungen kippen.
Manche Beobachter fürchten das Albtraum-Szenario, sprich eine Wiederholung des Wahlkrimis von 2000 zwischen Al Gore und George W. Bush. Im entscheidenden Bundesstaat Florida war das Ergebnis dermassen knapp, dass eine Nachzählung angeordnet wurde, die sich über Wochen hinzog und die USA zur Lachnummer machte.
Der Oberste Gerichtshof entschied schliesslich mit einem als skandalös empfundenen Urteil, die Nachzählung in Florida zu stoppen, wodurch Bush mit wenigen Hundert Stimmen Vorsprung zum Sieger erklärt wurde. Al Gore war entsetzt, doch er fügte sich in sein Schicksal. Eine ähnliche Reaktion von Donald Trump wäre eher nicht zu erwarten.
Die USA waren 2000 nicht so polarisiert wie heute. Beide Seiten haben ihre Juristen in Stellung gebracht. Eine Welle von Klagen ist absehbar, wenn es am 5. November so knapp werden sollte, wie die Umfragen derzeit andeuten. Wobei sich die Frage nach ihrer Zuverlässigkeit stellt. Einige Beobachter in den USA orten in dieser Hinsicht Mängel.
Ausgerechnet in den Swing States gebe es wenige qualitativ hochwertige Umfragen, stellte etwa «Politico» fest. Diese seien in den letzten zwei Jahrzehnten teurer geworden, während die finanzielle Lage vieler Medienunternehmen angespannt sei. So sei in Wisconsin in diesem Monat erst eine repräsentative Umfrage veröffentlicht worden.
Das erschwert eine Einschätzung des Wahlausgangs zusätzlich. Gleichzeitig stellt sich die Frage, warum Donald Trump intakte Chancen auf eine Rückkehr ins Weisse Haus hat, obwohl er charakterlich absolut ungeeignet ist. Nate Silver hat dazu eine Liste mit nicht weniger als 24 Gründen erstellt, warum Trump die Wahl gewinnen könnte.
Neben Defiziten von Kamala Harris (der späte Einstieg, das «Erbe» eines unpopulären Präsidenten) und der irregulären Migration sticht ein Punkt hervor: Viele Wähler empfänden eine Nostalgie für die drei ersten, wirtschaftlich relativ starken Trump-Jahre. Die Probleme von 2020 würden sie den Demokraten anlasten, obwohl diese nicht in der Verantwortung waren.
Haben die Amerikaner Donald Trumps chaotisches Pandemie-Management mit Tausenden Todesopfern und massiven wirtschaftlichen Einbrüchen schon vergessen? Unmöglich ist es nicht, denn Trump entzieht sich jeder konventionellen Schubladisierung. Er hatte 2016 und 2020 deutlich besser abgeschnitten, als die letzten Umfragen erwarten liessen.
Muss man sich darauf einstellen, dass er erneut Präsident wird, obwohl selbst sein einstiger Generalstabschef Mark Milley ihn als Faschisten bezeichnet? So eindeutig ist das nicht, schreibt der Autor David Freedlander im «New York Magazine». Für ihn läuft es auf einen «Showdown» zwischen Trumps Momentum und der «Harris-Maschine» hinaus.
Die Republikaner wollen sich demnach in den letzten Tagen des Wahlkampfs auf «Low propensity»-Wähler konzentrieren, also auf jene, die nur selten oder noch nie ihre Stimme abgegeben haben. Dazu passt Elon Musks Millionen-Lotterie in Pennsylvania. Doch selbst republikanische Strategen zweifeln laut Freedlander am Potenzial der Gelegenheitswähler.
«Man sollte nie eine Siegesfeier planen, die sich auf Neuwähler abstützt», meinte ein führendes Mitglied von Trumps Wahlkampfteam. Gleichzeitig anerkennen selbst die Republikaner, dass Kamala Harris über die breiter aufgestellte Wahlkampf-Organisation verfügt. Es ist ein womöglich entscheidender Vorteil bei der Mobilisierung der Wählerschaft.
Für Harris spricht auch, dass sie in den Umfragen beim Schlüsselthema Wirtschaft mit Trump gleichgezogen hat. Vielleicht haben die Wählerinnen und Wähler erkannt, dass seine gross angekündigten Strafzölle ihnen mehr schaden als nützen dürften. Kamala Harris mag an Schwung verloren haben, aber sie ist noch lange nicht geschlagen.
James Carville jedenfalls glaubt nicht an Bush vs. Gore 2.0. Er denke, dass die sieben Swing States sich in die eine oder andere Richtung bewegen dürften, sagte er gegenüber NBC News. Also wie 2016, als Trump überall gewann, ausser in Nevada, und wie 2020, als Joe Biden überall gewann, ausser in North Carolina. Offen bleibt, wer 2024 profitieren wird.
Carville will sich nicht festlegen, doch er verwies auf einen interessanten Punkt: «Die Demokraten haben seit Sommer 2022 keine einzige Wahl verloren.» Er wisse nicht, was das bedeute, «aber es muss etwas bedeuten», sagte er. Meint der alte Politikfuchs das ernst, oder kokettiert er nur? Denn eine plausible Antwort liegt auf der Hand: It’s abortion, stupid!
In jenem Sommer entschied der Oberste Gerichtshof, das seit fast 50 Jahren bestehende landesweite Recht auf den Schwangerschaftsabbruch aufzuheben. Der Backlash der Frauen, die grossmehrheitlich «Pro Choice» sind, war heftig. Werden sie die Wahl für Kamala Harris entscheiden? Oder schafft es Trump? Das Rennen bleibt hoch spannend.
Nun wird die entscheidende Frage sein, wie vernünftig und pragmatisch-, bzw. wie radikalisiert die Wähler*innen der Mehrheit der US-Amerikanischen Bundesstaaten sind...
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