Herr Casasus, der Wunsch nach einem Wandel brachte Emmanuel Macron ins Amt. Jetzt setzt er diesen Wandel um und die Franzosen sind doch nicht zufrieden. Warum?
Gilbert Casasus: Das ist typisch französisch. Man will sich revolutionär verhalten, aber sobald es Zeit für die Veränderungen ist, verhält man sich reaktionär. Das Land ist eben konservativer als viele denken. Doch Macron hat auch Fehler gemacht. Seine Reformen gehen zwar in die richtige Richtung, aber er hat die sozialen Aspekte unterschätzt. Die Vermögenssteuer abzuschaffen, ohne für sozialen Ausgleich zu sorgen, war ein Fehler. Auch dafür bekommt er nun die Quittung.
Am Dienstag lenkte Präsident Emmanuel Macron ein. Er legt die neue Steuer auf Diesel und Benzin vorerst auf Eis….
Das Moratorium ist ein schlechtes Zeichen. Wenn er jetzt zu viele Rückzieher macht, wird Frankreich die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht meistern können. Nur um ein Beispiel zu nennen: Nach Erhebung der staatlichen Gesundheitsbehörde «Santé publique France» sterben jährlich 48'000 Personen an den Folgen der Luftverschmutzung mit Feinstaub. Das wird von vielen «gilets jaunes» als Fakenews bezeichnet!
Die Steuern auf fossilen Treibstoffen sollten im Zuge seiner Klimapolitik zum Jahreswechsel erhöht werden. Warum stemmen sich die «gilets jaunes» so vehement dagegen?
Viele Zeitungen schreiben, es gehe lange nicht mehr nur darum, sondern um eine allgemeine Unzufriedenheit mit den politischen Entscheidungen in der französischen Gesellschaft. Ich bin da kategorischer: Den «gilets jaunes» ist die Umwelt egal, gar wurst . Es handelt sich um reaktionäre Leute aus dem linken und vorwiegend aus dem rechten Lager, die sich durch die Entscheidungsgremien nicht mehr vertreten fühlen. Sie wollen einfach gut in ihrem Land leben können – was ja auch verständlich ist. Aber die Energiewende ist da. Da muss sich jeder auf Veränderungen einlassen können. Deswegen kann man nicht eine nachhaltige Umweltpolitik befürworten und gleichzeitig eine solche Bewegung gutheissen.
Die «gilets jaunes» sind nicht die einzigen, die das öffentliche Leben in Frankreich lahmlegen. Wir Schweizer nerven uns regelmässig, weil der TGV wegen Streiks in Frankreich Verspätung hat oder das Flugzeug nicht rechtzeitig abheben kann. Warum gehen die Franzosen so oft auf die Strasse?
In Frankreich wird zuerst gestreikt, dann verhandelt. Der Streik ist ein Druckmittel und nicht wie bei uns der letzte Kampfakt. Das liegt unter anderem an der französischen «Kampf- und Streikkultur» sowie an der Schwäche der Gewerkschaften und an der fehlenden Präsenz von Vermittlungsorganen.
Bereits vor 229 Jahren waren die Steuern einer der auslösenden Funken zur Revolution. Jetzt werfen die «gilets jaunes» Macron vor, die Autofahrer zu melken, um die leeren Staatskassen zu füllen…
Nur gut, dass man die Staatskassen füllt! Und Sprit ist heute bereits viel billiger als in den 80er-Jahren. Diese Regierung hat endlich den Mut, zu sagen, Diesel gehört schrittweise abgeschafft. Aber die «gilets jaunes» beharren auf ihren Autos – klar, sie müssten auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen oder ein nachhaltigeres Auto kaufen. Aber das Problem ist hier oft nicht finanzieller, sondern kultureller Natur: Wenn ich in Frankreich bin und mein GA zeige, schauen mich alle an, als wäre ich ein armer Typ. Für manche Franzosen – hauptsächlich ausserhalb der Grossstädte – bleibt das Auto ein Freiheits- und Statussymbol. Die «gilets jaunes» fordern ausserdem die Erhöhung des Mindestlohns und der Renten – sie verlangen also mehr vom Sozialstaat, beschweren sich dann aber lautstark, sobald man diesen finanzieren muss. Ihre Forderungen sind nicht durchdacht. Das erinnert mich an die Anfangszeiten von François Mitterand. Dieser hat damals die Reichen zur Kasse gebeten und die haben ihr Geld dann schnurstracks auf Schweizer Banken gebunkert. Die Franzosen erhielten dann zwar mehr Lohn, das Land war aber nicht mehr wettbewerbsfähig. Mitterrand hat daraus seine Lehren gezogen. Die «gilets jaunes» hingegen nicht! Sie schaden der nationalen Wirtschaft. Der Detailhandel, die Gastronomie und der Tourismus mussten wegen der Blockaden und Tumulte bereits massive Umsatzeinbussen hinnehmen.
Letztes Wochenende eskalierten die Proteste auf den Champs-Elysées. Woher kommt all der Hass?
Unter die «gilets jaunes» haben sich sicher auch sogenannte «casseurs» gemischt, also Leute, die nur auf Chaos setzen. Doch viele «Gelbwesten» stammen aus einem bildungsschwachen Milieu und sehen sich als Verlierer der Globalisierung – das sorgt für grosse Frustrationen. Sie verharren dabei in einer Opferrolle. Für sie ist nur die Regierung Schuld, deshalb auch das Credo: ‹Denen im Élysée zeigen wir es jetzt!› Dabei wird auch im Gesellschaftsvertrag von Jean-Jacques Rousseau deutlich, dass in einer Demokratie jeder Verantwortung tragen muss. Und diese Verantwortung wollen die «gilets jaunes» nicht mittragen.
Die «Gelbwesten» sagen: Für uns gilt es nicht, das Ende der Welt zu überwinden, sondern erst einmal das Ende des Monats. Steht es um die Mittelschicht Frankreichs so schlecht?
Gewisse Bevölkerungsgruppen leben in Frankreich wirklich nicht sehr gut, aber auch manchmal besser, als es dargestellt wird. Der typische «gilet jaune» wohnt auf dem Land, in Kleinstädten oder in der Peripherie, aber nicht in den Banlieues. In diesen Gegenden kommen viele Familien mit einem doppelten Monatslohn über die Runden und wohnen in kleinen Einfamilienhäusern. Die «Gelbwesten» sind ausserdem nicht arbeitslos. Der Arbeitslose ist für sie Feind, genauso wie der Migrant. Denn beide könnten ihm ja die Arbeit wegnehmen. Unter den gelben Gilets stecken vor allem viele Wähler des rechtsextremen «Front National» der Marine Le Pen sowie der sehr linken «France Insoumise» von Jean-Luc Mélenchon. Wenn man die «gilets jaunes» historisch analysiert, ist es eher eine rechte bis rechtsextreme Bewegung. Neu ist, dass linke Politiker wie François Hollande oder Ségolene Royale solchen Strömungen zusprechen und versuchen, aus der wachsenden Empörung Kapital zu schlagen.
Macron wurde 2017 mit 65 Prozent ins höchste Amt Frankreichs gewählt. Dann kam die Benalla-Affäre, die Abschaffung der Vermögenssteuer – und jetzt steckt er in der schwersten Krise seiner Amtszeit. Wann war die Kehrtwende?
Macron hat verloren, als sich seine linken Wähler nicht mehr mit ihm identifizieren konnten. Passiert ist das bei der Vermögenssteuer. Hier führte er keine «en-même-temps»-Politik, sondern hat die Anliegen der Linken vernachlässigt. Das Label «Präsident der Reichen» klebt ihm seither noch mehr auf der Haut und wirkt sich schlecht auf seine Popularitätswerte aus. Benalla hat sicher auch nicht geholfen.
Für nächsten Samstag ist bereits die nächste nationale Kundgebung angekündigt. Wird sich der Protest von alleine erschöpfen oder wird nochmals alles ausarten?
Es ist beides möglich. Die «gilets jaunes» sind eine irrationale Bewegung, immer gewalttätiger und da kann sich jede Stunde etwas ändern.
Trotz der Ausschreitungen stehen laut einer Umfrage der Sender RTL et M6 72 Prozent der Franzosen hinter den «Gelbwesten». Könnten die «gilets jaunes» Macron die zweite Amtszeit kosten und gleichzeitig politischen Extremen weiteren Aufwind geben?
Es ist zu früh, um Prognosen abzugeben. Aber wenn Macron nicht endlich versucht, Wirtschaft, Klimapolitik und das Soziale in Einklang zu bringen, steigt die Gefahr eines Mélenchon, aber hauptsächlich einer Le Pen für 2022. Dies ist vielen Franzosen, die zu den Sympathieträgern dieser Bewegung gehören, nicht bewusst. Hoffentlich ist es nicht zu spät, um sich endlich von dieser meist rechtsextremen Gefahr abzuwenden.