Selten so genervt, selten so enttäuscht gewesen. Weil «Black Mirror» seit Jahren den Standard in Sachen technoid-technophober Serie sehr, sehr hoch setzt. Jetzt gibt es keine neuen Folgen, sondern einen neuen, originellerweise interaktiven Film, den (fast) nach Belieben dehnbaren «Bandersnatch».
Jungnerd Stefan (Fionn Whitehead) macht darin ein crazy Buch namens «Bandersnatch» – getauft nach einer Figur aus «Alice im Wunderland» – zum crazy Game. Worum es genau geht, ist egal, wir erfahren es eh nicht, auf jeden Fall drivet es ihn gehörig crazy, so sehr, dass er regelmässig zur Analytikerin muss. Der spätkindliche Game-Guru Colin (Will Poulter) will Stefan für seine Firma gewinnen – und nun öffnen sich viele Fragen, auf die es mancherlei Antworte gibt: Wie entscheidet sich Stefan, geht er dafür über Leichen, was hat das mit seiner Kindheit zu tun und gelingt das Game überhaupt?
Doch nicht jeder, der eine tolle Serie macht, ist auch ein guter Filmemacher. «Black Mirror»-Schöpfer Charlie Brooker ist es jedenfalls nicht. Denn was von der Story her schon als normale, kompakt in sich geschlossene Folge ein Ausreisser nach unten wäre, befriedigt als interaktiv verschlaufter, gameifizierter Film erst recht nicht. Obwohl Brooker dies mit allen Tricks versucht.
Endlich ermöglichen Brooker und Netflix, wovon «Black Mirror»-Junkies nachts so träumen: Selbst Teil des Horrors zu werden. Wieso? Weil «Black Mirror» bisher in vielen in sich abgeschlossenen Folgen (man würde sich eine so geringe Ausfallquote für den «Tatort» wünschen) diesen irren Sog entwickelte, dieses Eindringen in Perversionen des digitalen Fortschritts, wie wir ihn uns gerade knapp noch nicht vorstellen konnten. Im Gegensatz zu Brooker, der sowas wie die perversesten Hirnwindungen der Serienmacherwelt besitzen muss. Science Fiction zum Fürchten, bei der man sich tatsächlich fragt: Wie denkt wohl der Mann dahinter?
Jetzt kann man da ein Stück weit mit rein. Kriegt unterhalb des Bildschirmes Optionen zur Verfügung gestellt, kann sich für einen Soundtrack oder eine Frühstücksflocke entscheiden. Dafür, ob Stefan einen Job annimmt oder ablehnt. Ob ein Toter vergraben oder in Stücke gehackt wird, wer von zweien aus dem Fenster springt. Das triggert tatsächlich eine ganze Reihe von Instant-Befriedigungen, von «Wow, was passiert jetzt wohl?».
Es passiert dann allerdings verdammt wenig, in Rekordzeit schnellt die Story wieder zu einer älteren Option zurück oder die Entwicklungen hinter zwei unterschiedlichen Entscheidungen sind beinah identisch. Es finden sich keine völlig unterschiedlich abgedrehten neuen Erzählstränge, nur minimale Variationen. Die Schatztruhe hinter «Bandersnatch» ist also enttäuschend bald ernüchternd endlich. Eher halb leer als halb voll.
Bei Netflix heisst dies natürlich: Der Weg ist das Ziel. Und damit der schlappste Spruch aller Zeiten. Gilt für alles, was keine Pointe, kein Finale, keine richtige Architektur hat.
Normalerweise befinden wir uns im «Black Mirror»-Universum in einer bedrohlichen, aber uns nahen, durchaus vorstellbaren Zukunft. Jetzt gehts zurück in die Zukunftsvisionen des Jahres 1984. Ausgerechnet. In jenes von George Orwell geprägte Jahr also, das als Chiffre für Technoterror so durchgenudelt ist wie kein anderes. Was erstens ironisch gemeint sein dürfte, zweitens aber auch tatsächlich auf das 1984 programmierte Game namens «Bandersnatch» (später wurde daraus «Brataccas») hinweist.
Doch natürlich bedeutet 1984 vor allem: Soundtrack! Eighties! Smarties-Pop von Kajagoogoo, Eurythmics, Frankie Goes To Hollywood, Depeche Mode und Konsorte. Wer kann davon schon je genug kriegen? Und es bedeutet: Kindheits- und Jugenderinnerungen. Oder im Fall der Millenials: Ein unbeschwertes, pränatales Sehnsuchtsjahrzehnt. Funktionierte bei Netflix mit «Stranger Things» bombig.
Nice, aber am Ende zu wenig Trost und gelegentlich zu selbstreferentiel aufs Auge gedrückt. Der Vater bezeichnet einen Microwave als «alien technology». Die Psychoanalytikerin fragt Stefan, der sich zu Unterhaltungszwecken ferngesteuert glaubt, wieso er sich dann nicht in einem unterhaltsameren Universum befände (ja, fragen wir uns auch). Er glaubt sich von jemandem aus der Zukunft mit dem Namen «Netflix» gesteuert. Haha, funny. An der Wand von Colins Game Factory hängt Werbung für das Game «Metl Hedd» – den Robo-Käfer vom Plakat kennen wir bereits aus der «Black Mirror»-Folge «Metalhead». Und so weiter.
Es war ein Versuch. Er ist gescheitert. Bitte so nicht wiederholen. Die Gestaltungsmöglichkeiten und das Labyrinth, in das sie führen sollen, bleiben weit hinter dem zurück, was Brooker sonst in den geschlossenen Irrsinnsanstalten seiner Einzelfolgen wagt. «Bandersnatch» ist eine weichgespülte Publikumsanbiederung. Dabei war der Clou von «Black Mirror» bisher doch gerade das Gegenteil: Die furiose, in ihren paranoischen Volten so unglaublich raffinierte Beschimpfung all der idealistischen oder naiven (was ja oft das Gleiche ist) Verschmelzungsversuche von Mensch und Technik.
Bisher stand man nach «Black Mirror» verwirrt und aufgewühlt vom Sofa auf. Wie genial war das! Folgen wie «Black Museum», «Nosedive», «San Junipero», «Be Right Back», «White Bear» und, und, und. Jetzt? Hätte man genau so gut eine Packung ungesalzener Reiswaffeln essen können.
«Bandersnatch» läuft jetzt auf Netflix.