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«Die höchste Form von Gangster ist der Revolutionär»

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«Die höchste Form von Gangster ist der Revolutionär»

04.01.2019, 20:0007.01.2019, 14:40
Tommy Vercetti
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Branding Box
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Über Rap und Gesellschaft zu sprechen, erfordert zuerst mal, Rap in und aus der Gesellschaft heraus zu verstehen – kulturell wie auch geschichtlich. Für mich wie für viele andere bedeutet das, einen schmerzlich trockenen Blick auf eine grosse Liebe zu werfen. Denn eigentlich beginnt die Geschichte nicht mit Kool Herc und Grandmaster Flash, sondern mit Geld, Gewalt und verlorenen Hoffnungen. Der britischer Schriftsteller und Theoretiker Mark Fisher hat die heutige Kultur als «kapitalistischen Realismus» bezeichnet – damit lässt sich Rap sehr gut verstehen. Aber was heisst das überhaupt: kapitalistischer Realismus?

Eben genau das banale und doch so wahre Wu-Tang-Zitat:

«Cash rules everything around me.»

Also erstens, dass Geld zum alles Entscheidenden und Wichtigsten überhaupt geworden ist, wichtiger als Familie, Religion und Liebe, wichtiger als Politik, Gerechtigkeit und Demokratie. Wer viel Geld hat, kann sich alles und alle kaufen und noch mehr Geld damit machen; wer wenig Geld hat, ist dazu verurteilt, sich an diejenigen mit viel Geld zu verkaufen oder im Elend zu verenden. Das nennt man Kapitalismus.

Zum Autor
Tommy Vercetti, eigentlich Simon Küffer (37), ist ein Schweizer Mundart-Rapper aus Bern. Neben der Rapmusik forscht er an der Universität und der Hochschule der Künste Bern zu Bildern von Geld.

Die jüngeren User werden sagen: 

«Na und, so ist halt die Welt, ist doch normal?»

Und damit wären wir bei zweitens: Kapitalistischer Realismus meint eine Kultur, die gar nichts anderes mehr denken kann, und deshalb das «Cash-rules» nur noch melancholisch beschreibt oder zynisch zelebriert.

«Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus» schreibt Slavoj Žižek. Fisher sieht einen Grund des Erfolgs von Rap in seiner frühen Anpassung und Verinnerlichung: Rapper übernehmen unhinterfragt die kapitalistischen Wünsche und Ideale, selbst wenn sie zu den Verlierern dieses Systems gehören:

«Für einen Grossteil der Hip-Hop-Künstler war jegliche ‹naive› Hoffnung, dass eine Jugendkultur irgendeine Änderung herbeiführen könnte, schon durch die nüchterne Umarmung einer brutalen, reduktionistischen Version von ‹Realität› ersetzt worden.»

Natürlich ist das verallgemeinert, natürlich gibt es jede Menge positiven, kritischen, politischen Rap – aber in der Tendenz ist es richtig: Rap ist die Musik einer Generation, die den Kapitalismus als unveränderliche Realität akzeptiert hat.

Die Frage ist: Wie ist es dazu gekommen, wie zeigt sich das und was bedeutet das für uns?

Real existierender Kapitalismus

Rap hat seinen Ursprung nicht zufällig in den schwarzen Ghettos der USA. Gerade New York, zuvor noch vorbildliche Arbeiterstadt, wurde in den 1970er Jahren zum Labor für neoliberale Politik: Manhattan wurde zum Business- und Touristenparadies aufgemotzt, die Aussenquartiere ihrem Elend überlassen. Das war keine ‹natürliche› Entwicklung, sondern ein bewusstes politisches Programm: Wie macht man mit Kapital wieder richtig Profit, wie bringen wir das Geld wieder von den vielen unten zu den wenigen oben? Auf der Gegenseite stellt sich die Frage: Was hat denn die junge schwarze Unterschicht für eine Perspektive von Macht? Also davon, jemand zu sein, etwas zu bewegen, handeln zu können, Einfluss zu haben?

Dies ist vor allem von den Klassenverhältnissen abhängig: Also wie mächtig sind die Banken, Investoren und Unternehmer, wie gut organisiert sind auf der Gegenseite die Arbeiter, welche Rolle spielen Staat und Politik, und wie krisenanfällig ist das ganze System?

Die Vereinigten Staaten übernehmen schon nach dem 1. Weltkrieg die Vorreiterrolle des kapitalistischen Westens, bekämpfen im Kalten Krieg Sozialisten und Gewerkschaften und gehen ab den 70ern und spätestens mit Reagan zu einem radikalen Kapitalismus über: Schwacher Sozialstaat (also wenig gesicherte Bildung, Gesundheit, Infrastruktur, Altersversorgung, usw.), entfesselter Finanzmarkt, krasse Ungleichheit und ein sehr individualistisches, an Reichtum gebundenes Verständnis von Freiheit.

Dieser Turbo-Kapitalismus führt in regelmässigen Abständen zu Krisen. Die letzte ab 2007 frass global 11'000 Milliarden Dollar Steuergelder (das heisst, wir alle haben die Gier der Banken, Broker und Grossaktionäre finanziert).

Diese Krisen werden nun nicht dazu genutzt, den Kurs zu korrigieren oder gar zu hinterfragen, sondern noch mehr vom Gleichen durchzusetzen – weshalb? Weil eine gut organisierte Arbeiterklasse als Gegenpol fehlt. In den USA ist die Klassenfrage untrennbar verbunden mit der Aufteilung in Schwarz und Weiss. Das reicht von der Sklaverei über die Jim-Crow-Politik bis zum Gefängnissystem.

Hierzu die grossartige Doku «13th»:

Der amerikanische Journalist und Buchautor Ta-Nehisi Coates schreibt: 

«Amerikas unverzichtbare Arbeiterklasse existierte als Eigentum jenseits der Sphäre der Politik, sodass weisse Amerikaner ungehindert ihre Liebe zu Freiheit und zu demokratischen Werten herausposaunen konnten.»

So holen die Erfolge der 60er-Bewegung erst den bürgerlichen Grundsatz auf, dass mal alle zumindest vor dem Gesetz gleich sind (man sollte an dieser Stelle aber nicht zu selbstgerecht sein: In der Schweiz passiert das erst 1971 mit dem Frauenstimmrecht). Eine vereinigte Arbeiterbewegung wird auf verschiedene Weise verunmöglicht:

  1. Weil die soziale und politische Position zu stark über die Hautfarbe bestimmt bleibt, und eine ‹farbneutrale› Strategie dieses Problem auch verharmlost hätte.
  2. Zweitens und wichtiger, weil jeder Versuch, diese Kämpfe zusammenzuführen, brutal unterdrückt wurde (v.a. durch das FBI unter J. Edgar Hoover).

Bis Ende der 1970er waren sämtliche schwarzen Führungsfiguren verstummt, sei es durch Gefängnis, Exil oder Tod (Mar-tin Luther King, Malcolm X, Huey Newton, Angela Davis, etc.) und damit die Bewegungen zerstört. Zurück blieb eine Klasse in Chaos und Ohnmacht, die auf sich alleingestellt dem Elend, den Drogen, der Arbeitslosigkeit, den Ghettos der 80er Jahre gegenübertritt.

Thousands rallied at the U.S. Capitol in Washington, March 16, 1983 as unemployed workers from across the country gathered for the rally and a day of lobbying Congress about their plight. The National ...
Demonstranten im Jahre 1983 in Washington.Bild: AP

Diese Situation, in der das gemeinsame Kämpfen nicht mehr als Möglichkeit der Veränderung erscheint, in der man den Staat nur noch als Feind und Politik nur noch als Theater wahrnimmt, in der sich Träume und Utopien ausgelebt haben und tatsächlich nur noch das Geld zählt – das ist realexistierender Kapitalismus.

Es ist die Seite, die ignoriert wird, wenn wohlhabende Europäer grossspurig erklären, der Sozialismus hätte nicht funktioniert – als würde der Kapitalismus funktionieren für die Millionen Menschen, die in den letzten dreissig Jahren an Hunger, Krieg, Gewalt und heilbaren Krankheiten gestorben sind. Kapitalistischer Realismus ist der kulturelle Ausdruck des real existierenden Kapitalismus: Es bleibt nichts anderes, als sich mit der Welt zu arrangieren. Man kann sie entweder resigniert beschreiben oder zynisch feiern – aber nicht mehr verändern, ja nicht mal mehr von ihrer Veränderung träumen.

The Elements

Darin zeigt sich auch die Doppeldeutigkeit von Realness, die im Rap so wichtig ist: «Real» bedeutet einerseits kompromisslos, authentisch, nicht ans Publikum oder Verkaufsargumente angepasst; «real» bedeutet aber auch die ungeschminkte, brutale Realität, in der jeder gegen jeden und um sein Überleben kämpft, in der es wenige Gewinner und viele Verlierer gibt.

Dies erklärt teilweise auch den kommerziellen Erfolg der Musik: Die Rapper sprechen nicht nur der grossen Masse aus dem Herzen, sie sind auch schon perfekt vorbereitet für die kaltblütige und rein profitorientierte Geschäftswelt. Die politischen Hoffnungen fahren zu lassen, sich dem Kapitalismus zu unterwerfen und dieser Unterwerfung noch etwas Würde zu verleihen – dies alles lässt sich an 3 konkreten Elementen veranschaulichen:

Erstes und wichtigstes Mittel von Macht und Anerkennung ist «Geld».

Rap bekräftigt und zelebriert hier nur ungemütlich offen das kapitalistische Ideal, das seit den Medici vor 500 Jahren die Welt regiert – dies bis zur radikalen Konsequenz: dem eigenen Tod oder dem der andern. Präziser müsste man sagen: Bargeld, denn es sind nicht Karriere, Aktien oder Immobilien, die Aufstieg und Mitsprache versprechen, sondern kriminelle Tätigkeiten. Illegales Bargeld ersetzt wirtschaftliche Macht und Sicherheit, die im offiziellen Märchen aus Beruf, Markt und Sozialstaat erwachsen sollten.

Eng an den Erwerb dieses Geldes gekoppelt ist Gewalt, vor allem Waffengewalt.

Diese ist notwendig, um sich in dem künstlich geschaffenen «Dschungel», in dem rechtsfreien Raum durchzusetzen, wo die Polizei statt eines Schutzes eine zusätzliche Gefahr darstellt. Waffengewalt ersetzt hier politische Macht, die eigentlich durch Rechte, Bildung, politische Mitsprache und den Zugang zu Ämtern gegeben sein sollte.

Diese Gewalt wird nun am wirksamsten gebündelt in einer Gang.

Die Gang ist die letzte Form sozialer Organisation in einer asozialen Welt, quasi der zersplitterte und brutalisierte Überrest der politischen Bewegungen. Gerade aufgrund dieses Gewaltbezugs ist die Gang vor allem eine Gruppe junger Männer, die ein entsprechendes Männlichkeitsideal pflegt.

Die Gang ersetzt soziale Macht, Gemeinschaft und Schutz, deren Ort eigentlich die Familie und die Schule, Vereine, Parteien und Bewegungen wäre.

Street Power

Diese «Street Power» ist nun einerseits eine Überlebensstrategie. Coates schreibt:

«Ich praktizierte die Kultur der Strasse, eine Kultur, die in erster Linie der Sicherung des Körpers dient.»

Sie ist andererseits aber auch ein Weg, als absolute Verlierer des Systems doch Würde zu finden – zumindest im Rap. «Die Jungs liebten diese Musik, weil sie ihnen allen Realitäten zum Trotz bescheinigte, Herr über ihr Leben, ihre Strassen, ihre Körper zu sein.»

Da überrascht auch die Sympathie für Mafiafilme nicht.

In einer Mischung aus Trotz, Zynismus und Ausweglosigkeit werden sämtliche Werte umgemünzt: Geld ist alles, Gewalt ist notwendig, die Gang ist die Familie, Fluchen ist schön, Frauen sind Bitches. Und selbst wo das Politische noch auftritt, ist es ohne die Anbindung an Geld oder Gewalt nicht mehr denkbar.

Im Gegenteil: Selbst bei ausgeprägtem politischem Bewusstsein wird die Trennung von Gangster und Befreiung aktiv verweigert. Die Strasse ist zur Identität geworden – vielleicht eine traurige, aber die eigene. Davon Abstand zu nehmen, wäre nur eine weitere Demütigung.

Den reinsten visuellen Ausdruck hat der kapitalistische Realismus auf zwei Covers gefunden: Pushas «My Name Is My Name» zeigt eine absolut sterile Welt, in der nur noch das Zeichen des Verkaufs eine Existenz anzeigt.

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Alles Unnötige – Aussage, Gefühl, Moral, Schönheit – ist getilgt.

Auf Kendricks «To Pimp A Butterfly» ist der Traum der Revolution nur noch als Albtraum möglich. Zunächst mal für die weisse Oberschicht, aber eben auch für die schwarze Arbeiterklasse selbst.

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Hier gibt es weder schwarzen Stolz noch effiziente Organisation. Die politischen Führer sind tot, es bleiben nur noch Kendricks Gang, Geld und Gewalt. Die wären natürlich weder fähig, eine Revolution durchzuführen, noch eine neue Gesellschaft aufzubauen. In dieser Welt existiert die Zukunft nur noch mit zynischem Zwinkern – als hoffnungslose Hoffnung, als dystopische Utopie.

Kapitalistischer Realismus

Diese Formulierungen sind keine schöngeistigen Wortspiele, sondern exakt so gemeint: Hoffnung, Perspektive, Zukunft erscheint im Rap immer schon gebrochen, zynisch, resigniert und angepasst. Und es ist genau diese Perspektiven- und Hoffnungslosigkeit, mit der man sich überall identifizieren kann, und die Rap zu einer globalen Kultur gemacht hat. Perspektive gibt es nur noch innerhalb des Systems, nur wenn man bereit ist, sich völlig unkritisch auf die Ideale und Mechanismen zu verpflichten, die einen erst in die Scheisslage gebracht haben. Darin liegen eine Unterwerfung und eine Demütigung, die alle jungen Menschen im Kapitalismus gemeinsam haben, egal ob sie in Baltimore Crack dealen oder in Bern das KV machen.

Dass die Gesellschaft anders funktionieren könnte, und dass man diese Veränderung gemeinsam erkämpfen könnte, das liegt gar nicht mehr im Denkhorizont.

Das lässt sich sehr deutlich im kürzlich erschienen «Lyrics»-Interview mit Newcomer Drini nachlesen: Man ist «gefangen in einem Alltag, in dem alles selbstverständlich ist», wo «niemand absichtlich den Weg in die Kriminalität» wählt, sondern es schlicht «keinen Ausweg» gibt und sich lediglich die Frage stellt: «Wie macht man das Beste aus diesem Leben?» 

L Loko x Drini – «B.M.W».Video: YouTube/Sektion Züri

Und weil darauf keine gemeinsame, politische Antwort mehr möglich scheint, redet der Artikel auch über Spotify-Zahlen, Marktexpansion ins Ausland und die Pflege des «eigenen Branding».

Auch Schweizer Rap nimmt sich (nach einer naiven Anfangsphase) nüchtern als Produkt wahr. Auch seine Strategien sind: Beschreibung der traurigen Realität, zynisches Zelebrieren des Falschen, Realitätsflucht in den Sirup, nostalgisches Zurückträumen in die 90er, in den mutigsten Momenten offene Depression – aber nicht gemeinsame Veränderung, nicht Utopie, nicht Träumen einer besseren Welt.

Dies ist kein Zeugnis für die Armseligkeit von Rap, sondern für das absolute Scheitern von Politik, für das Versagen der Herrschenden, den Menschen Mitsprache und ein Leben in Würde zu ermöglichen – offensichtlich auch und gerade in der Schweiz. Natürlich ist eine solche Kultur auch in keiner Weise bereit, irgendwelche Zugeständnisse an Moral, Anstand oder politische Korrektheit zu machen –und dies völlig zu Recht: es geht ja gerade darum, die sozialen Normen als scheinheilige Fassade zu entlarven.

Der österreichische Philosophie-Professor Robert Pfaller nennt das schwarze Wahrheit:

«Der emanzipatorische Wert solcher Protestgesten liegt nicht in der Verletzung von Regeln, sondern vielmehr im Hinweis darauf, dass die Situation als ganze eine noch weitaus schlimmere Verletzung ebendieser Regel darstellt.»

Vielleicht soll man den Texten gerade anmerken, dass diese Welt Scheisse ist – sonst kann man auch Helene Fischer hören.

Die Arroganz privilegierter (und/oder kleinbürgerlicher) Kritiker ist mindestens eine dreifache:

  • Erstens: zu glauben, das alles wäre völlig ernst gemeint und nicht schon zynisch gebrochen (so à la: diese primitiven Affen sind doch zu Mehrdeutigkeit gar nicht fähig).
  • Zweitens: nicht zu erkennen, dass man hier lediglich wirtschaftlichen Idealen folgt, einfach ohne Schminke: Geld machen, dafür über Leichen gehen, am Abend ins Puff – was Rap zelebriert, wird an der Börse gelebt.
  • Drittens: die eigene Verantwortung zu ignorieren; man findet in einer widerlichen Realität seinen Weg, und genau die Erschaffer dieser Realität wollen diesen Weg dann als primitiv und vulgär abtun.

Die gleichen Republikaner, die die Schwarzen dem Elend der Ghettos überliessen, entsetzten sich dann ab deren Sprache, die ihre Kinder verderben könnte – wie endlos heuchlerisch! In der Schweiz ist das nicht anders: Es sind die Banker, die Grossaktionäre, die Unternehmer und die Politiker der grossen Parteien, die den Migranten das Stimmrecht verwehren, die Löhne drücken, den Reichen Steuergeschenke machen und dafür bei Bildung, Pflege und Rente sparen – und nicht die Rapper.

Bigger Than Hip-Hop

Der Rapper ist der Seiltänzer. Wird man nicht reich geboren, dann bietet der heutige Kapitalismus einen einzigen Weg an: seine Arbeit zu verkaufen.

Der Abgrund droht nicht nur, wenn man davon abweicht, sondern auch, wenn man zurückschaut oder kurz innehalten möchte, um über diesen Weg nachzudenken. Am sichersten ist es, gedankenlos vorwärts zu gehen, möglichst schnell und immer der vorgegebenen Richtung nach. Rap spielt das traurigerweise mit – macht aber eine Kunst daraus. Eine Kunst, die enthüllende Scheinwerfer auf sich zieht, die das Verachtenswerte zelebriert, das erzwungene Vorwärtsstolpern zu einer selbstbewussten Choreografie formt, die die Gedemütigten in ein glitzerndes Kostüm steckt und sich als Könige feiern lässt.

Und genau deshalb eine grosse Kunst, vielleicht die authentischste unserer Zeit – zumindest relevanter als vieles, was sich da als anspruchsvoll, intellektuell, innovativ, moralisch aufspielt in Radio und Feuilleton.

Das lässt sich schon rein an der Verachtung ablesen, die man Rap entgegenbringt. Rap verweigert sich der Schöngeistigkeit, die die Privilegierten brauchen, um eine Kunst geniessen zu können. Zu sehr spiegeln sich darin die widerlichen Verhältnisse, für die sie selbst verantwortlich sind. Die Herrschenden unterwerfen tagsüber die ganze Welt dem Geld, lassen Menschen verhungern, in Fabriken und Bordellen schuften, in Ghettos verenden, in Kriegen sterben – und möchten dann abends eine Musik hören, die von Harmonie, Idealismus und Schönheit handelt.

Rap mag vulgär, dumm, sexistisch, gewaltverherrlichend und geldgeil sein, aber zumindest gestattet er diese Befriedigung nicht.

Mark Fisher hat aus seiner Analyse die Konsequenz gezogen und sich 2017 das Leben genommen. Diesen Pessimismus muss man nicht teilen. Er wies darauf hin, dass sich unsere Depressionen nie heilen lassen, wenn man sie als private Probleme von geschädigten Individuen wahrnimmt. Darauf würde auch ich meine Hoffnung bauen: Unsere Probleme sind gesellschaftliche, also lassen sie sich auch als Gesellschaft lösen – aber eben nur als Gesellschaft, das heisst: politisch.

Für Rap habe ich eine kleine Wunschliste zusammengestellt: Fantasie entwickeln; in die Zukunft schauen; über Gründe nachdenken; die kapitalistische Logik brechen; nicht an Geld denken; Bücher lesen; die anderen als seine Klasse erkennen; auf Seite der Frauen stehen; gegen oben kämpfen; nicht nach unten treten; nicht vergessen, wo man herkommt; nicht moralisch werden; mühsam bleiben; die Strasse lieben – und immer erinnern:

Die höchste Form von Gangster ist der Revolutionär.

Quellennachweis: Ta-Nehisi Coates – «Zwischen mir und der Welt», Mark Fisher – «Kapitalistischer Realismus ohne Alternative?», David Harvey – «Kleine Geschichte des Neoliberalismus», Erik Olin Wright – «Reale Utopien», Robert Pfaller – «Erwachsenensprache»,  Beat Schneider – «Penthesilea, Kunst- und Kulturgeschichte»

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27 Kommentare
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Spooky
04.01.2019 22:02registriert November 2015
Was für ein super Text! Habe noch nie so etwas Gutes gelesen auf Watson, was dieses Thema im Allgemeinen betrifft. Das geht ja viel weiter als Rap. Danke.
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R10
04.01.2019 21:27registriert Juli 2016
Sehr guter Text.
Bis jetzt war ich enttäuscht von der Reihe, aber dieser Artikel ist top.
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Agnesse
04.01.2019 20:51registriert Oktober 2017
Wow, das hat mir zu lesen gefallen, und einige vorgeführte Gedanken werden mich sicher weiter beschäftigen! Bitte mehr solche essayistischen Perspektiven, ja? 😃
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