Die AHV ist der Schweizer Bevölkerung lieb und teuer. Das zeigte sich dieses Jahr auf spektakuläre Weise: Am 3. März wurde die Volksinitiative des Gewerkschaftsbunds für eine 13. AHV-Rente klar angenommen. Erstmals fand damit eine linke Vorlage für einen Sozialausbau Gnade beim Stimmvolk. Es ist kein Zufall, dass sie die AHV betraf.
Die staatliche Rentenversicherung ist das beliebteste Sozialwerk der Schweiz. Obwohl sie vor grossen demografischen Herausforderungen steht, hat das Stimmvolk einen Ausbau beschlossen. Bürgerliche Politiker und Wirtschaftsvertreter verstanden die Welt nicht mehr. Manche tun sich noch immer schwer damit, das Ergebnis der Abstimmung zu akzeptieren.
Denn am 22. September folgte der nächste Tiefschlag, mit dem deutlichen Nein zur Reform der beruflichen Vorsorge (BVG). Die letzte Woche veröffentlichte VOX-Analyse des Instituts GFS Bern bestätigte, dass die Materie für viele Stimmberechtigte zu kompliziert war. Und dass die Warnungen der linken Gegnerschaft vor Rentenkürzungen verfangen haben.
Bei der Altersvorsorge stehen die Zeichen offensichtlich auf Ausbau. Das zeigt sich auch in anderen Bereichen. Denn bei der AHV ist in diesem Jahr nicht nur wegen der Zusatzrente einiges in Bewegung geraten. Sie gleicht einer Grossbaustelle. Es ist nicht einfach, den Überblick über die verschiedenen Schauplätze zu behalten:
Es gibt wenige Bereiche in der Politik, in denen Frauen gegenüber den Männern privilegiert werden. Die heutige Regelung bei den AHV-Hinterlassenenrenten gehört dazu. Witwen erhalten nach dem Tod ihres Ehepartners lebenslang eine Zusatzrente, Witwer hingegen nur bis zur Volljährigkeit des jüngsten Kindes. Dies widerspricht der Idee der Gleichstellung.
Ein Witwer hat deswegen geklagt und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg 2022 Recht erhalten. Der Bundesrat will deshalb Witwen und Witwern künftig einheitlich eine Zusatzrente bis zum 25. Altersjahr des jüngsten Kindes auszahlen. Er hat kürzlich eine entsprechende Vorlage an das Parlament weitergeleitet.
Neu soll diese Regelung nicht nur für Ehe-, sondern auch für Konkubinatspaare gelten. Trotzdem gibt es Widerstand von links. Die SP spricht von einem «Kahlschlag bei den Witwenrenten». Die SVP, deren Basis bei Rentenvorlagen oft «links» stimmt (siehe BVG-Reform), bietet einen Deal an: tiefere Witwen- gegen höhere Ehepaar-Rente.
Ehepaare erhalten in der AHV nach heutiger Regelung maximal 150 Prozent einer Altersrente – also höchstens 3675 Franken monatlich. Paare im Konkubinat hingegen bekommen zwei Einzelrenten und damit bis 4900 Franken. Dieser «Missstand» ist der Mitte-Partei ein Dorn im Auge. Sie bekämpft die Heiratsstrafe mit einer Volksinitiative.
Noch zu Beginn dieses Jahres war es fraglich, ob die Initiative zustande kommt. Jetzt aber wird die Mitte-Partei von zwei Seiten umworben. Der Deal von SVP-Präsident Marcel Dettling sieht gemäss «Blick» vor, dass als Gegenleistung für die Anpassung der Hinterlassenenrenten die Ehepaar-Rente auf mindestens 175 Prozent angehoben wird.
Der Waadtländer SP-Ständerat Pierre-Yves Maillard, als Präsident des Gewerkschaftsbunds der «Mastermind» hinter den linken Abstimmungserfolgen, will auf der anderen Seite die Anhebung der Ehepaar-Rente mit der Finanzierung der 13. AHV-Rente verknüpfen. Die Avancen bringen Mitte-Präsident Gerhard Pfister in eine komfortable Lage.
Er spielt deshalb auf Zeit, wie CH Media berichtete. Bei der zuständigen Kommission des Nationalrats erzielte er einen Etappensieg. Sie beschloss letzte Woche, die bundesrätliche Vorlage zur Witwenrente zurückzustellen, bis die Botschaft zur Mitte-Initiative «Ja zu fairen AHV-Renten auch für Ehepaare» vorliegt. Dies dürfte Anfang 2025 der Fall sein.
Gerhard Pfister hielt gegenüber CH Media am vollen Ausgleich auf 200 Prozent fest. Oft übersehen wird allerdings, dass es nicht nur eine Heiratsstrafe, sondern auch ein Heirats- oder vielmehr Beitragsprivileg gibt. Wer als Elternteil für einige Jahre nicht berufstätig ist, etwa wegen der Kinderbetreuung, ist über die AHV-Beiträge des Partners mitversichert.
Es entstehen somit keine Beitragslücken, die zu Rentenkürzungen führen. Wer im Konkubinat lebt, profitiert nicht davon. Das relativiert zu einem gewissen Grad die Bevorzugung unverheirateter Paare. In einem Abstimmungskampf zur Mitte-Initiative wird dieser Aspekt mit Sicherheit für Diskussionen sorgen.
Die Zusatzrente wird ab 2026 ausbezahlt, wie vom Stimmvolk beschlossen. Noch offen ist die Finanzierung. Der Bundesrat möchte die Mehrwertsteuer um 0,7 Prozent anheben und gleichzeitig den Bundesbeitrag an die AHV kürzen. Dies stösst auf heftigen Widerstand von links. SP und Gewerkschaften verlangen eine Finanzierung auch über Lohnprozente.
Pierre-Yves Maillard nimmt dabei die Abzüge für die Arbeitslosenversicherung (ALV) ins Visier. Deren Kasse ist wegen der niedrigen Erwerbslosigkeit gut gefüllt, weshalb ein Teil für die 13. AHV-Rente und eventuell höhere Ehepaar-Renten verwendet werden könnte. Ein Vorteil dieser Lösung: Im Portemonnaie der Arbeitnehmenden würde sich nichts ändern.
Wohin die Reise geht, bleibt offen. Die Sozial- und Gesundheitskommission des Ständerats ist grundsätzlich auf die Vorschläge des Bundesrats eingetreten, doch definitiv regeln will sie die Finanzierung der 13. Rente erst in der nächsten grossen Reform der AHV, die Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider bis 2026 vorlegen muss.
Zuvor muss sich der Bundesrat womöglich erneut mit einem Volksentscheid vom September 2022 herumschlagen. Damals wurde die AHV 21 mit dem Frauenrentenalter 65 ganz knapp und gegen den Willen der Betroffenen angenommen. Doch in diesem Sommer wurde bekannt, dass dem Stimmvolk falsche Zahlen zur finanziellen Lage der AHV vorgelegt worden waren.
Sie ist deutlich besser als damals angenommen. Stéphane Rossini, der Direktor des Bundesamts für Sozialversicherungen, hat deshalb kürzlich seinen Rücktritt erklärt. Die Grünen und die SP-Frauen forderten mit einer Beschwerde eine Wiederholung der Abstimmung. Das Bundesgericht wird am 12. Dezember darüber entscheiden.
Ungewöhnlich ist, dass es eine öffentliche Urteilsberatung geben wird, wie der «Tagesanzeiger» letzte Woche berichtete. Und dass eigens zwei nebenamtliche Richterinnen einbezogen werden. Das sorgt für Spannung. Allerdings gibt es eine Knacknuss: Eine zusammen mit der AHV 21 beschlossene Erhöhung der Mehrwertsteuer ist bereits in Kraft.
Die AHV wird die Schweiz weiter auf Trab halten. Und vor allem ihre Finanzierung, nicht nur wegen der 13. Rente. Denn nach wie vor stehen Forderungen von bürgerlicher Seite nach einer generellen Erhöhung des Pensionierungsalters im Raum, trotz des klaren Neins zur Initiative der Jungfreisinnigen ebenfalls im März. Eine allfällige Wiederholung der Abstimmung über das Frauenrentenalter 65 könnte als Fingerzeig dienen.