Europa rüstet auf, und das nicht zu knapp. Davon konnte sich Verteidigungsminister Martin Pfister während eines zweitägigen Besuchs bei EU und NATO in Brüssel überzeugen. Die Entschlossenheit der europäischen Länder, in die Verteidigung zu investieren, habe ihn beeindruckt, sagte der neue Mitte-Bundesrat am Mittwoch an einer Medienkonferenz.
Die Zeitenwende durch Wladimir Putins Angriffskrieg auf die Ukraine scheint in Europa definitiv angekommen zu sein. In der Schweiz hingegen hinkt man hinterher. Die Bürgerlichen wollen die Armee aufrüsten, tun sich aber mit der Finanzierung schwer. Und die hiesigen Waffenhersteller können von der «Rüstungs-Bonanza» nicht profitieren.
Im letzten Jahr waren die Rüstungsexporte entgegen dem internationalen Trend rückläufig. Grund sind das restriktive Kriegsmaterialgesetz und die rigide Auslegung der Neutralität durch den Bund. Deshalb dürfen europäische Länder nicht einmal vor Jahren in der Schweiz gekauftes Rüstungsmaterial an die von Russland bombardierte Ukraine weitergeben.
In der laufenden Sommersession versuchte das Parlament – oder vielmehr die bürgerlichen Mehrheiten in National- und Ständerat – erneut, auf beiden «Baustellen» Fortschritte zu machen. Viel mehr als unausgegorene und nicht sonderlich treffsichere Schnellschüsse resultierten nicht. Sie zeigten exemplarisch die Probleme der Schweizer Rüstungspolitik.
Bei der Beratung der Armeebotschaft 2025 in der ersten Sessionswoche im Nationalrat – Bundesrat Pfisters «Feuertaufe» im Parlament – wollten bürgerliche Sicherheitspolitiker eine zusätzliche Milliarde Franken für den Kauf von Munition durchwinken. Armeechef Thomas Süssli hatte in der zuständigen Kommission einen entsprechenden Bedarf geltend gemacht.
Allerdings hatten sie im wahrsten Sinn die Rechnung ohne die Finanzpolitiker gemacht. Diese legten sich quer und blockten den Munitions-Schnellschuss ab. Es ist das Grundproblem seit Beginn des Ukraine-Kriegs vor mehr als drei Jahren. Die Bürgerlichen wollen die Armee aufrüsten, drücken sich aber um die Frage herum, wer das bezahlen soll.
Die Entwicklungshilfe «auszuweiden», ist fragwürdig und auf Dauer nicht tragfähig. Und an der Schuldenbremse wollen die Bürgerlichen – anders als die neue deutsche Regierung – nicht rütteln. Martin Pfister hingegen zeigte sich in Brüssel beeindruckt, dass Länder, denen es nicht so gut gehe wie der Schweiz, grosse finanzielle Mittel zur Verfügung stellten.
Die Frage, woher das Geld für die Wehrertüchtigung kommen soll, ist in Europa durchaus ein Thema, gerade für hoch verschuldete Länder wie Frankreich oder Italien. Die Schweiz ist in einer vergleichsweise beneidenswerten Lage. Irgendwann müssen die Bürgerlichen Farbe bekennen, denn man kann den Bären nicht waschen, ohne dass das Fell nass wird.
Diese Metapher wurde auch am Mittwoch im Ständerat bemüht. In einer langen und teilweise emotionalen Debatte ging es um eine Lockerung des Kriegsmaterialgesetzes. Die Schweizer Rüstungsindustrie hatte intensiv dafür lobbyiert. Sie leidet unter den restriktiven Vorgaben und hat zunehmend Mühe, ihre Produkte ins Ausland zu exportieren.
Dänemark, Deutschland und die Niederlande wollen in der Schweiz kein Kriegsmaterial mehr kaufen, nicht einmal Tarnnetze. Sie befürchten, dass die Schweiz ihnen im Ernstfall den Einsatz verbietet oder keinen Nachschub liefert. Denn bislang hält sich der Bund an jene Auslegung der Neutralität, die eine Gleichbehandlung aller Kriegsparteien verlangt.
Nun will der Ständerat alle Exporte und sogar die Weitergabe an Drittstaaten grundsätzlich zulassen, zumindest für 25 ausgewählte Länder. Bei den meisten handelt es sich um NATO-Mitglieder, was die Sache zusätzlich pikant macht, wegen der Beistandspflicht im Fall eines Angriffs. Der Bundesrat soll einzig ein schwammig formuliertes Vetorecht erhalten.
Eine Kollision mit der Neutralität ist unvermeidlich, doch die Bürgerlichen redeten um den heissen Brei herum. Oder sie versuchten, das Fell des Bären nicht nass zu machen. Sie verwiesen auf die bewaffnete Neutralität der Schweiz, die eine eigene Rüstungsindustrie benötige. Wegen des überschaubaren Bedarfs müsse sie exportieren können.
In ihren Voten dominierte das Prinzip Hoffnung, etwa dass der Ukraine-Krieg bald vorbei ist. Oder dass der neue Kalte Krieg niemals heiss wird. Nur vereinzelt wurde eingeräumt, dass Schweizer Waffen auch in problematischen Konflikten eingesetzt werden könnten. Das sei «eine Ambivalenz, die wir nicht auflösen können», meinte FDP-Präsident Thierry Burkart.
Das sorgte für Ärger bei linksgrünen Ratsmitgliedern. In diesem Fall könne man die Neutralität gleich abschaffen, befand der Zürcher SP-Ständerat Daniel Jositsch. Seine Parteikollegin Franziska Roth erwähnte die Möglichkeit, dass US-Präsident Donald Trump Kriegsmaterial aus der Schweiz «gegen Grönland und somit gegen Europa einsetzt».
Die Solothurnerin zeigte durchaus Verständnis für die Nöte der Rüstungsindustrie. Sie skizzierte einen möglichen Ausweg: Die Schweiz solle sich bei der Neutralität künftig an der UNO-Charta orientieren, die im Fall eines völkerrechtswidrigen Angriffskriegs klar zwischen Aggressor und Opfer unterscheidet. Doch Roths Antrag blieb im Ständerat chancenlos.
Am Ende der ausufernden Debatte sagte der Ständerat mit 31:11 Stimmen Ja zur Änderung des Kriegsmaterialgesetzes. Zuvor allerdings hatte der Schwyzer SVP-Vertreter Pirmin Schwander die Vorlage als «noch nicht neutralitätskompatibel» kritisiert. Er reichte den Schwarzen Peter, oder vielmehr die «Herkulesaufgabe», an den Nationalrat weiter.
Seine Partei steckt im Dilemma. Die SVP ist dezidiert armeefreundlich und versteht sich als Wirtschaftspartei. Gleichzeitig hält sie eisern an der Neutralität fest. Eine Volksinitiative aus ihrem Umfeld will sie in der Bundesverfassung verankern. Die Neutralität sei «wichtiger als die Rüstungsindustrie», sagte Fraktionschef Thomas Aeschi dem «Tagesanzeiger».
Hält die SVP daran fest, dürfte die Vorlage im Nationalrat vermutlich in der Herbstsession so gut wie chancenlos sein. Damit hätte auch dieser Schnellschuss sein Ziel verfehlt. Möglich ist aber auch, dass in der Volkspartei das Fressen vor der Moral kommt. In diesem Fall hat die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) das Referendum angekündigt.
Möglich 😅😅😅?
Top-Kommentar der letzten vier Wochen. Seidenfein..