Die Schweizer Politik ist ein langer und ziemlich ruhiger Fluss. Wir stimmen regelmässig ab und leisten uns den Luxus, das Volk über Kuriositäten wie Kuhhörner zu befragen. Ab und zu geraten wir in Turbulenzen. So hat der Aufstieg der SVP das Parteiengefüge durcheinander gewirbelt. Aber insgesamt zeichnet sich unser System durch eine bemerkenswerte Stabilität aus.
Das gilt auch für die Regierung. Wenn im Bundesrat ein Sitz frei wird, entsteht jeweils einige Aufregung. Demnächst müssen gleich zwei Mitglieder neu gewählt werden. Insgesamt aber gilt, was Aussenminister Ignazio Cassis kürzlich vor den Medien sagte: «Die Schweiz hat seit 170 Jahren keinen Regierungswechsel gehabt.» Der Bundesrat als Kollegium existiert seit 1848.
Diese Kontinuität geht einher mit einem nicht weniger beeindruckenden Wohlstandsniveau. Dumm nur, dass die Aussenwelt sich wenig darum schert. Dort ist vieles in Bewegung, und die Schweiz kann sich dem immer weniger entziehen. Kein Land ausser Singapur hat sich wirtschaftlich dermassen der Globalisierung verschrieben. Das kann nicht ohne Folgen bleiben für die Politik.
Demnächst stehen einige Entscheide an, die wegweisend sein werden für die Zukunft des Landes. Die Diskussion darüber aber lässt die Frage aufkommen, ob wir deren Tragweite wirklich realisiert haben. Oder ob wir an einem Syndrom leiden, dass Avenir-Suisse-Direktor Peter Grünenfelder im Gespräch mit der «Republik» als «Wohlstandshalluzination» bezeichnet hat.
Was auf dem Spiel steht: Die so genannte Selbstbestimmungsinitiative der SVP kommt am 25. November zur Abstimmung. Sie verlangt, dass die Bundesverfassung Vorrang hat gegenüber internationalen Verträgen. Ausnahmen gibt es für das zwingende Völkerrecht und Abkommen, die beim Abschluss dem Referendum unterstanden. Für die Gegner führt dies zu Konfusion und Rechtsunsicherheit. Die Schweiz riskiere ihren Ruf als verlässliche Vertragspartnerin.
Was zu erwarten ist: Die SVP wird es schwer haben. In der ersten Tamedia-Umfrage wird die SBI mehrheitlich abgelehnt. Es fehlt ein «Leidensdruck» wie bei der Masseneinwanderungs-Initiative. Und wenn SVP-Nationalrat und Kampagnenleiter Thomas Matter gegenüber «20 Minuten» sagt, das Parlament dürfe «ohnehin nur Verträge abschliessen, die nicht gegen die Verfassung verstossen», schiesst er sich in den eigenen Fuss. Wozu braucht es dann die Initiative überhaupt?
Was auf dem Spiel steht: Die Schweiz steht unter internationalem Druck, Steuerprivilegien – man kann auch sagen Schlaumeiereien – für ausländische Firmen abzuschaffen. Der erste Anlauf mit der Unternehmenssteuerreform III scheiterte in der Volksabstimmung. Das Parlament zimmerte deshalb das Bundesgesetz über die Steuerreform und die AHV-Finanzierung (STAF). Als «Ausgleich» für die neue Steuervorlage erhält die AHV eine Finanzspritze von zwei Milliarden Franken.
Was zu erwarten ist: Die Delegierten der SP sagten nach einer intensiven Debatte Ja zur STAF. Dennoch haben linke Gruppierungen das Referendum ergriffen. Es dürfte am 19. Mai 2019 zu einer erneuten Abstimmung kommen. Der Ausgang ist ungewiss. Viele haben das Gefühl, sie würden nun sogar doppelt zur Kasse gebeten, damit Firmen weiter privilegiert besteuert werden.
Bei einem erneuten Nein aber droht Rechtsunsicherheit. Viele Unternehmen sind deshalb schon heute beunruhigt. Vor allem muss die Schweiz damit rechnen, von EU und OECD auf eine schwarze Liste gesetzt zu werden. In Bern kursieren deshalb Szenarien, die bis zu einer Abschaffung der verpönten Privilegien via Notrecht reichen – was äusserst bedenklich wäre.
Was auf dem Spiel steht: Es ist der Dauerbrenner der Schweizer Politik. Mit dem institutionellen Rahmenabkommen sollen die bilateralen Verträge mit der Europäischen Union abgesichert werden. Weil die EU auch die flankierenden Massnahmen gegen Lohndumping einbeziehen will, leisten die Gewerkschaften erbitterten Widerstand, den sie zuletzt bekräftigt haben.
Was zu erwarten ist: Einiges deutet darauf hin, dass sich die Unterhändler auf technischer Ebene weitgehend einig sind, auch bei den flankierenden Massnahmen. Das Problem ist die Politik. So lange die Gewerkschaften bocken, dürfte der Bundesrat zögern, das Rahmenabkommen zu unterzeichnen. Dabei wird die Zeit wegen den Wahlen in der EU und der Schweiz 2019 knapp.
Dabei liegt die Bedeutung der EU für die Schweiz als mit Abstand wichtigster Handelspartner auf der Hand. Umfragen zeigen, dass die Bevölkerung sich dieser Tatsache bewusst ist. Ob dies auch für die Wichtigkeit des Rahmenabkommens gilt, ist eine andere Frage. «Die Leute bemerken es nicht, wenn der bilaterale Weg erodiert», meint eine Nationalrätin aus der politischen Mitte.
Hier liegt ein wesentlicher Grund dafür, warum es Reformen in der Schweiz immer schwerer haben. Es geht uns wirtschaftlich fast zu gut, uns fehlt das Problembewusstsein. Das führt zu der von Peter Grünenfelder beklagten Wohlstandshalluzination. Wir machen uns vor, alles wäre bestens, und bemerken nicht, dass wir selber am Fundament unseres Wohlstands rütteln.
Man kann einwenden, die Schweiz habe in schwierigen Situationen immer wieder eine Lösung gefunden. Das trifft oberflächlich betrachtet zu. Doch Notrechtsmassnahmen wie bei der Herausgabe von UBS-Kundendaten an die USA oder Pseudo-Umsetzungen wie bei der MEI bedrohen auf lange Sicht die Stabilität unseres vermeintlich vorbildlichen Systems.
Hinzu kommt das Gebaren der SVP, die vordergründig Regierungsverantwortung übernimmt, aber gleichzeitig mit ihren Initiativen immer wieder das System und die «Classe politique» attackiert. «Nennen Sie mir ein anderes Land, in dem die grösste Partei Opposition macht», sagte mir kürzlich ein ranghoher Politiker hörbar entnervt, angesprochen auf den Reformstau in der Schweiz.
Weshalb auch den Wahlen in einem Jahr grosse Bedeutung zukommen. Die SVP erwarb sich mit ihrem Sieg 2015 die Legitimation für einen zweiten Sitz im Bundesrat. Falls sie 2019 verliert, sollte über ihre «Verbannung» in die Opposition nachgedacht werden. Es gibt jedoch zwei Probleme: Für einen solchen Schritt dürfte der Mut fehlen, und auch die Linke hat sich in letzter Zeit nicht gerade verantwortungsvoll verhalten.
«Wir haben den restaurativen Kräften – ob links oder rechts von der Mitte –, den Bewahrenden, den Zurückblickenden, den Traditionalisten zu lange die Deutungshoheit gegeben», kritisierte Peter Grünenfelder im «Republik»-Gespräch. Falls sich diese Einsicht verbreitet, wäre ein Anfang gemacht. Vorerst müssen wir damit rechnen, dass die nächsten Monate auf dem Fluss der Schweizer Politik unruhig werden.