Ab 2019 ist es im Kanton St.Gallen verboten, das Gesicht im öffentlichen Raum zu verhüllen. Mit 67 Prozent wurde am Sonntag dem Verhüllungsverbot an der Urne zugestimmt. Jede einzelne Gemeinde, selbst die linksliberale Kantonshauptstadt, sprach sich für das Verbot aus.
Nicht nur die Gegner, auch die Befürworter zeigten sich ob des klaren Resultats überrascht. Erstaunlich ist es insofern auch, als dass ein anderer Ostschweizer Kanton dem Verbot vor nicht allzu langer Zeit eine deutliche Abfuhr erteilte. So sprach sich die Bevölkerung im Nachbarkanton Glarus im Mai 2017 mit einem Stimmenverhältnis von etwa zwei zu eins gegen ein Verbot aus. Dies, obwohl im Kanton die bürgerlichen Parteien im Parlament und in der Regierung überwiegen und obwohl traditionell eher konservativ abgestimmt wird.
Warum ist das Resultat der Abstimmung in zwei Kantonen, die sich in vielem sehr ähnlich sind, so anders?
Für Politikwissenschaftler Sean Müller, der selber aus dem Glarnerland kommt, ist die Antwort auf diese Frage klar: «Der grosse Unterschied ist, dass in Glarus an der Landsgemeinde und in St.Gallen an der Urne abgestimmt wurde.» Nebst Glarus findet diese Urform der direkten Demokratie nur noch im Kanton Appenzell statt. Einmal im Jahr versammeln sich dabei die Stimmberechtigten der Kantone unter freiem Himmel, um über Wahlen und Geschäfte zu entscheiden. Abgestimmt wird per Handzeichen.
Laut Müller ist diese Form der öffentlichen Abstimmung ein Grund, warum die Bevölkerung insbesondere bei ideologisch-emotionalen Themen differenzierter wertet. «Bei einer geheimen Stimmabgabe an der Urne kann man einfacher Dampf ablassen. Das traut man sich bei der Landsgemeinde weniger», sagt er.
Ein weiterer Vorteil der Landsgemeinde sei, dass vor der Abstimmung Befürworter und Gegner eines Geschäfts zu den versammelten Stimmberechtigten sprechen können. «Es findet eine Debatte statt, der man sich nicht entziehen kann. Man muss beide Seiten anhören», so Müller.
Bei der Abstimmung über das Verhüllungsverbot im Kanton Glaurs dauerte diese vorangehende Diskussion eine halbe Stunde lang. Zwölf Redner traten nacheinander aufs Podium und legten ihre Argumente dar. Darunter auch Peter Aebli, früherer kantonaler FDP-Präsident und heutiger Rektor der Glarner Kantonsschule. Er plädierte in seiner Rede gegen eine Verbotskultur und für die Freiheit.
Aebli sagt: «Es gibt viele, die sich bis zur Abstimmung noch keine Meinung gemacht haben. Uns ist gelungen, diese mit stichhaltigen Argumenten und einer sachlichen Diskussion auf unserer Seite zu ziehen.» So habe er aufzeigen können, dass Bekleidungsvorschriften nicht liberal seien, dass ein Verbot in einem einzelnen Kanton nicht praktikabel sei und dass im Kanton Glarus noch nie eine Burka gesehen wurde. «Bei einer Abstimmung an der Urne gibt es viele, die sich mit der Materie nicht richtig auseinandersetzen und nur einseitiges Informationsmaterial haben», sagt Aebli.
Warum die Argumente der Gegner in St.Gallen in keiner einzigen Gemeinde Anklang fanden, sei schwierig zu sagen, sagt Politikwissenschaftler Müller. Er nehme es so wahr, dass es weniger Anstrengungen gab, ein «Ja» zu verhindern. Wohingegen damals im Kanton Glarus ein extra gegründetes Bürgerkomitee stark gegen das Verhüllungsverbot mobilisiert habe.
Einen Unterschied sieht Müller auch bei der Demografie der Abstimmenden. «Zwar ist die Stimmbeteiligung an der Urne grösser. Hingegen beteiligen sich bei der Landsgemeinde mehr junge Leute», sagt er. Dies, weil die Versammlung mit einem Fest, mit einem Happening verbunden sei. Und weil die Jüngeren tendenziell weniger konservativ eingestellt seien, habe das eine Auswirkung auf das Resultat der Abstimmung.
Inwiefern sich dieses in St.Gallen nun auf die Debatte über ein nationales Verhüllungsverbot auswirken wird, ist für Müller noch nicht klar. Voraussichtlich 2020 kommt die Volksinitiative des «Egerkinger Komitees» an die Schweizer Urnen. Er sagt: «Bei Abstimmungen auf Bundesebene verlaufen die Diskussionen ausgeglichener. Beide Seiten kommen zu Wort. Das Abstimmungsbüchlein ist differenzierter, auf parlamentarischer Ebene debattieren zwei Kammern.» Es komme sehr auf die Dynamik der Kampagne an. Eine Prognose wagt er zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu machen.