Es gibt die Stimmen von Politikern, die den Angriff der islamistischen Hamas auf Israel mit mehr oder weniger scharfen Worten verurteilen. «Wir dürfen den Terror nicht gewinnen lassen und müssen alle Zahlungen in den Gazastreifen aussetzen», forderte der St.Galler SVP-Nationalrat Lukas Reimann auf X an die Adresse der offiziellen Schweiz.
Dann gibt es die (wenigen) Stimmen, die trotz der erschreckenden Brutalität der Hamas die Hauptschuld am Terror auf Israel abwälzen. Zu ihnen gehört der frühere Grünen-Nationalrat Geri Müller, der 2012 Vertreter der Hamas ins Bundeshaus eingeladen hatte. «Israel ist ein Apartheidstaat. Punkt», sagte Müller dem «Tages-Anzeiger».
Und dann gibt es die offizielle Schweiz. Als Mitglied des UNO-Sicherheitsrats verurteilte sie am Sonntag «die schockierenden Angriffe, einschliesslich der Terrorhandlungen und Raketenangriffe der Hamas auf Israel». In ersten Stellungnahmen zum Konflikt am Wochenende hatte das Aussendepartement EDA den Begriff «Terror» noch vermieden.
Wieder einmal tut sich die Schweiz schwer damit, das Offensichtliche beim Namen zu nennen. Darin zeigt sich im konkreten Fall auch das komplizierte Verhältnis zu den Palästinensern. Sie engagiert sich im humanitären Bereich und bemüht ihre guten Dienste. Doch die aktuelle Eskalation zeigt die Grenzen dieser Gratwanderung auf.
Einen Staat Palästina mit klar definierten Grenzen gibt es bis heute nicht. Dennoch wird er von 138 Staaten international anerkannt. Europäische Länder sind kaum darunter. Eine bemerkenswerte Ausnahme ist Schweden, das 2014 den Staat Palästina anerkannte. Es war damals ein grosser Propaganda-Coup für Palästinenserpräsident Mahmud Abbas.
Die Schweiz anerkennt Palästina nicht als Staat auf bilateraler Ebene. Sie unterhält aber «seit dem Oslo-Abkommen von 1993 Beziehungen zur Palästinensischen Autonomiebehörde», schreibt das EDA auf seiner Website. Dazu gehören seit 1994 ein Kooperationsbüro in Ostjerusalem und seit 2001 ein Verbindungsbüro in Ramallah.
Als Schwerpunkte nennt das EDA die guten Dienste im Friedensprozess, humanitäre Hilfe, Nachhaltigkeit sowie Jobs in neuen Technologien. Zu einem dauerhaften Frieden könne nur «eine durch beide Seiten verhandelte Zwei-Staaten-Lösung» führen. Diese vom Bund als «Vision» bezeichnete Position im Nahostkonflikt wirkt im jetzigen Kontext illusorisch.
Einen Schwerpunkt des Engagements in der Region bildet das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge UNRWA. Es existiert seit 1949 und betreut Menschen, die teilweise schon in der dritten Generation in Flüchtlingslagern in Ländern wie Jordanien und Libanon leben. Die Schweiz unterstützt das UNRWA mit rund 20 Millionen Franken pro Jahr.
Kritiker werfen dem UNRWA vor, nichts zur Lösung des Nahostkonflikts beizutragen, sondern ihn am Leben zu erhalten. «Ist die UNRWA Teil der Lösung oder Teil des Problems?», fragte sich auch Aussenminister Ignazio Cassis im Mai 2018, wenige Monate nach seinem Amtsantritt, auf einer Jordanien-Reise im Interview mit der «Aargauer Zeitung».
Für diese Aussage wurde Cassis seinerseits kritisiert, denn das Palästinenser-Hilfswerk wurde zu jenem Zeitpunkt mit Pierre Krähenbühl von einem Schweizer geleitet. Er stolperte ein Jahr später über Vorwürfe wegen Misswirtschaft und Begünstigung, die nie erhärtet werden konnten. Und die Schweiz setzte ihre Zahlungen an das UNRWA fort.
Ein oft gehörter Vorwurf lautet, in vom Hilfswerk betriebenen Schulen würden Bücher mit antisemitischen Inhalten verwendet. Seit dem Angriff der Hamas vom Samstag gibt es deshalb Forderungen aus der Politik, die Gelder zu stoppen, etwa vom Zürcher SVP-Nationalrat Benjamin Fischer. Der Bund hat sich dazu bisher nicht geäussert.
Kompliziert ist auch das Verhältnis der Schweiz zur radikalislamischen Hamas. Auf eine Anfrage der Aargauer Mitte-Nationalrätin Marianne Binder räumte der Bundesrat 2021 Kontakte mit der Hamas ein. Sie würden «von den internationalen Schlüsselakteuren wie den USA und der EU geschätzt». Auch Israel werde regelmässig darüber informiert.
Eine Einstufung als Terrororganisation lehnt der Bundesrat ab. Er übernehme in dieser Frage die Vorgaben des UNO-Sicherheitsrats, weshalb Al Kaida und der «Islamische Staat» in der Schweiz verboten sind, aber nicht die kurdische PKK und ähnliche Gruppierungen. In Bezug auf die Hamas herrschte auch am Sonntag im Sicherheitsrat keine Einigkeit.
Die Haltung der Schweiz wird von Kritikern als «legalistisch» bezeichnet. Neue Vorstösse im Parlament sind angekündigt. Jüdische Vereinigungen, aber auch die FDP fordern eine Benennung der Hamas als Terrororganisation. Im Gegensatz zu anderen Ländern könne sie sich in der Schweiz frei bewegen, Spenden sammeln und ihre Finanzen abwickeln.
Allerdings gibt es einen Nachgeschmack. Maximale Härte gegen die Hamas fordern vor allem Politiker aus den Reihen der SVP. Im Fall des Ukraine-Kriegs aber beharren die gleichen Kreise auf Zurückhaltung und der Beachtung der Neutralität. Dabei unterscheidet sich der russische Terror gegen die Zivilbevölkerung kaum von jenem der Hamas.
Mitte-Präsident Gerhard Pfister wählte deutliche Worte: «Bei beiden Angriffen muss die Schweiz klar Position beziehen. Den Aggressor gleichzubehandeln wie den Angegriffenen, ist nicht neutral.» Und ein Frieden ist in beiden Fällen nicht in Sicht.
Noch zur Hamas: Es handelt sich klar um eine Terrororganisation unter deren Machenschaften nicht nur Israel leidet, sondern allen voran die Palästinenser selbst. So ist die totale Isolation des Gazastreifens hauptsächlich auf den Hamas-Terror zurückzuführen.
Die neutralste Haltung wäre so gesehen wohl die Behandlung beider Seiten als Aggressoren.