Stadtwanderer Benedikt Loderer ist DER Architekturkritiker in der Schweiz. «Landesverteidigung» heisst sein Buch vielsagend, in dem er die Zersiedelung anprangert. watson trifft Loderer in seiner verwinkelten Wohnung in der Bieler Altstadt. Altersmilde ist der 74-jährige nicht geworden, wie sich rasch zeigt.
Herr Loderer, Sie kämpfen seit 40 Jahren gegen die «Hüsli-Pest» im Mittelland. Was haben Sie eigentlich gegen Einfamilienhäuser?
Hüsli sind pure Ressourcenverschwendung. Mich stört, dass wir diese Hüsli-Menschen alle hoch subventionieren, weil wir ihnen die Infrastruktur aufs Land stellen. Seit 1950 hat man in der Schweiz mehr gebaut als alle Generationen seit den Römern zusammen. Wenn es 70 Jahre so weitergeht, ist die Schweiz zugebaut, wir vergeuden das Land. Wollen wir das? Mit der Zersiedelungs-Initiative können wir diese Entwicklung aufhalten. Ein Stück Land darf nicht länger ein Konsumprodukt sein.
Der Traum vom eigenen Einfamilienhaus hält sich aber hartnäckig. Woher kommt das?
Das ist ein germanischer Irrtum. Die Leute betrachten sich noch immer als Einzelhofbesitzer, diese Mentalität ist in Fleisch und Blut übergegangen. Ein eigenes Haus ist für viele Leute die Freiheitsvorstellung schlechthin.
Aber Freiheit bedeutet heute für viele urbane Menschen möglichst unabhängig zu sein, eben den Rasen am Samstag nicht mähen zu müssen. Das beisst sich mit dem Einfamilienhaus.
Erzählen Sie das den Hüsli-Menschen, nicht mir. Am Schluss geht es ums Geld: Eine gesellschaftliche Trendwende wird erst eingeleitet, wenn der Benzinpreis erhöht wird, die Hypo-Zinsen steigen, die Bauland-Kapazitäten erschöpft sind. Solange wir genug Geld haben, bleibt die Hüsli-Schweiz der grosse Traum vieler Leute. Wir leben weit über unseren Verhältnissen.
Wie sieht denn für Sie denn die architektonisch perfekte Schweiz aus?
Entschuldigung, wir haben schon eine Schweiz. Die ist da, mit der müssen wir umgehen. Wir müssen unser Land nicht neu entwerfen, sondern uns fragen, was man mit dem bestehenden Land anfangen will. Wenn man verdichten will, muss man dies einfach schlauer machen. Nicht einfach abreissen und neu bauen, sondern aus dem Bestand entwickeln. Den Leuten relativ viele Freiheiten lassen.
Es gibt aber sicher eine Siedlung, die ihrem architektonischen Ideal entspricht?
Seit 50 Jahren secklen alle in die Halensiedlung von «Atelier 5» in Herrenschwanden bei Bern, ein in sich geschlossenes und dicht gebautes Reihenhaus-Bauwerk. Das Problem: Alle haben die Siedlung gelobt, aber niemand hat sie nachgebaut. Die gleichen Leute, die die Halensiedlung toll finden, stellen dann irgendwo auf dem Land ein Tubeli-Hüsli hin. Der Schweizer will keine Reihen-Einfamilienhäuser. Die Holländer sind da viel fortschrittlicher.
Was geschieht denn in den Niederlanden?
Die Holländer leben ganz fröhlich in den Reihenhäusern, die Schweizer sterben schon nur beim Gedanken daran. Auch die Niederlande sind ein äusserst dicht besiedeltes Land. Die Reihenhäuser brauchen einfach viel weniger Land.
Wie steht die Schweiz im internationalen Vergleich punkto Zersiedelung da?
Ein Vergleich mit unseren Nachbarländern ist schwierig. Wir leben in der Schweiz nicht wie in Frankreich, wo man stundenlang durch leeres Land fahren kann. Wir haben das Pech, dass man die Hälfte unseres Bodens gar nicht brauchen kann. Richtig bauen kann man nur auf dem Streifen zwischen Genfer- und Bodensee, das schränkt uns ziemlich ein.
Der «Jabee Tower» in Dübendorf oder der «Bäre-Tower» in Ostermundigen – in der Agglo werden gleich mehrere rund 100 Meter hohe Wohntürme gebaut. Wie wichtig sind Hochhäuser für die Entwicklung von Agglomerationen?
Das Beispiel Ostermundigen habe ich genau studiert. Der Bahnhof Ostermundigen ist ein Bahndamm im Niemandsland, ausser einer grauenhaften Unterführung hat es dort nichts. Ich finde es richtig, dass man dort ein Hochhaus hinstellt. Ostermundigen ist ein wüstes Kaff, das ein Zentrum braucht. Es ist aber nicht so, dass Hochhäuser alle Probleme lösen. Vielmehr muss man die rechtlichen Bedingungen so anpassen, dass man einfacher verdichten kann.
Also dienen Hochhäuser nicht der Verdichtung?
Nein, Hochhäuser setzen vielmehr städtebauliche Akzente. Aber nur, wenn sie am richtigen Ort stehen.
Die Stadt Bern präsentiert kürzlich die Pläne für die Überbauung des Viererfelds, welche mit über 3000 Bewohnern ein nationales Leuchtturmprojekt für verdichtetes Bauen sein soll, ohne dass Hochhäuser entstehen. Was halten Sie davon?
Das Viererfeld ist in dieser Form ein ziemlich mutloses Projekt. Wenn die Stadt wirklich nach innen verdichten will, hätte man das ganze Feld überbauen müssen. Nun ist die eine Hälfte der Wiese ein Park, die andere Bauzone. Das ist eigentlich Landverschwendung.
Was geht in Ihnen eigentlich als Architekturkritiker vor, wenn Sie eine Hüsli-Siedlung im Grünen sehen?
Es tut mir nicht weh. Vielmehr zeigt es, wie viel Geld wir in der Schweiz haben. Es ist ein Ausdruck der «Fédération des Profiteurs». Oftmals läuft es so: Sie haben ein Stück Land, das einem Bauern gehört, der auch noch im Gemeinderat sitzt. Dieser sorgte vor Jahren dafür, dass sein Land in die Bauzone kam und macht jetzt den grossen Reibach. Er ist aber nicht alleine: Notare, Architekten und auch die Gemeinden profitieren von Neuzuzügern. Einzonungen sind das beste Geschäft, das es je in der Schweiz gegeben hat!
Das Zauberwort gegen Zersiedelung heisst Verdichtung Wie viele Menschen haben in der Schweiz Platz?
Man bringt in den ganzen Hüsli-Gürtel in der Agglo nochmals mindestens doppelt so viele Menschen rein. Also rund 10 Millionen Leute. Verdichten ist aber keine Masterplan-Angelegenheit, es ist ein Detailgeschäft. Häuser aufstocken, aneinander bauen, dichter bauen. In heutigen Wohnzonen ist dies wegen den strengen Vorschriften momentan fast nicht möglich.
Also sind die Vorschriften falsch?
Die Regeln in der Schweiz sind absolut verkehrt. Sie gehen davon aus, dass ein Haus mitten auf dem Grundstück steht und es rundherum möglichst viel Abstand braucht. Das ist absurd. Man müsste die Grenzabstände zwischen den Häusern aufheben. Wir brauchen keine offene, sondern eine geschlossene Bauweise, wie etwa hier in der Bieler Altstadt.
Was ist denn das wirkliche Problem in den Agglomerationen?
Es ist offensichtlich: Der ewige Verkehrsstau in den Agglomerationen ist das grösste Problem. Über den Stau regen wir uns jeden Tag auf, nicht über den Siedlungsbrei. 70 Prozent der Bevölkerung leben in der Agglo. Die Agglo-Menschen fühlen sich dort wohl. Das schlimmste ist, wenn jemand ein Haus vor das eigene Hüsli stellt und damit die freie Aussicht verbaut.
Sie propagieren, dass die Zersiedelungs-Initiative die Ausbreitung der Hüsli-Schweiz stoppt. Das ist doch eine Utopie.
Mitnichten, mit ihr können wir die Bauzonen einfrieren. Alle wissen, dass die Schweiz schön ist. Sie finden sie dort schön, wo sie so aussieht wie im vorletzten Jahrhundert. Darum zieht es viele Leute aufs Land. Gerade diese Sehnsucht treibt die Zersiedelung an. Mit der Initiative sorgen dafür, dass die Schweiz schön bleibt.
Laut den jüngsten Umfragen sind 52 Prozent für die Zersiedelungs-Initiative. Glauben Sie an eine Sensation?
Klar! Auch bei der Zweitwohnungs-Initiative glaubten alle, dass sie hochkantig abschifft. Doch es kam anders.
Kritiker sagen, auch bei Annahme der Initiative würde weiterhin am falschen Ort gebaut. Halt dort, wo es noch Bauzonen hat, etwa im Oberaargau. Was sagen Sie dazu?
Es stimmt, aber es geht nicht um das. Es geht um die Frage, ob man weiterhin Zersiedelung will. Um einen Grundsatzentscheid.
Der Bundesrat hat im Herbst 2018 das Raumplanungsgesetz revidiert. Das reicht doch, um die Zersiedelung einzudämmen.
Das Raumplanungsgesetz ist weiterhin ein Expansionsgesetz! Alle 15 Jahre kann man so viel einzonen, wie man in den nächsten 15 Jahren braucht. So geht das nicht. Denn die Landeigentümer sagen, wie viele Einzonungen es braucht. Nicht die Nachfrage. Da sind wir wieder beim Einzonungsgeschäft. Aber sind wir ehrlich: Das Schicksal der Schweiz wird nicht in der Schweiz entschieden.
Wie meinen Sie das?
Die Welt dreht sich und wir werden mitgedreht. Was die Herren Trump und Co. entscheiden, trifft auch uns. Ich gehe nicht davon aus, dass die künftigen Generationen im selben Wohlstand schwimmen wie wir heute. Das hat zumindest eine positive Seite: Sollte es uns schlechter gehen, brauchen wir weniger Raum. Aber danach sieht es heute noch nicht aus.
Die Schweiz muss also städtischer werden?
Natürlich, man kann nicht 10 Millionen Einwohner haben und denken, man lebe weiter auf dem Land. Ein Knackpunkt ist die Mobilität, die nach wie vor viel zu billig ist. Die Agglo in der heutigen Form ist nur wegen der günstigen Mobiliät möglich. Wenn der Benzinpreis bei 10 Franken liegt, muss man die Agglo umbauen. Dann können sich die Leute unnütze Fahrten nicht mehr leisten. Auch das GA müsste doppelt so teuer sein. Es braucht endlich Kostenwahrheit bei der Mobilität. Diese Stossrichtung wird eine neue Initiative verfolgen.
Sie sind als Kind in einem Einfamilienhaus im Spiegel bei Bern aufgewachsen. Haben Sie schon mit dem Gedanken gespielt, wieder zurück in ein Hüsli zu ziehen?
Nein, ich fühle mich hier in der Bieler Altstadt wohl. Hier kann ich in den Finken in die Apotheke gehen, überall hat es Beizen und sogar eine Bibliothek. Alles was ich brauche, finde ich im Umkreis meiner Wohnung.
Zum Schluss: Wo ist für Sie der hässlichste Ort der Schweiz?
Das ist eine Strasse in Dübendorf. Eine Kurve mit grossen «Bauklötzen», Geschäftshütten. Inzwischen hat sich das Gebiet dank dem Tram zum Glück wesentlich verbessert.