Frauen in der Politik – ein kompliziertes Thema. Das weibliche Geschlecht ist in den politischen Gremien nach wie vor schwach vertreten. Das zeigt etwa die Debatte um die beiden frei werdenden Bundesratssitze. Und Besserung scheint vorerst kaum in Sicht. Bei den nationalen Wahlen in einem Jahr droht den Frauen sogar ein Rückschritt um Jahrzehnte.
Einen Bereich aber gibt es, in dem die Frauen tendenziell in der Überzahl sind: Die Organisationen der Zivilgesellschaft, oder kurz NGOs. An einem aktuellen Beispiel lässt sich dies besonders gut belegen: Der so genannten Selbstbestimmungsinitiative (SBI) der SVP, über die am 25. November abgestimmt wird. Auf der Gegenseite findet man auffällig viele Frauen.
Watson hat NGO-Vertreterinnen, die sich auf verschiedenen Ebenen gegen die Initiative engagieren, zum «Gipfeltreffen» geladen. Dabei zeigte sich, dass das Thema an sich nicht «weiblich» ist. Trotzdem fühlen sich gerade Frauen davon betroffen. «Es geht darum, die Werte und Rechte zu verteidigen, die wir uns hart erkämpfen mussten», sagt Andrea Huber, Geschäftsführerin der «Allianz der Zivilgesellschaft», auch bekannt als Schutzfaktor M.
Andrea Huber ist die «Mutter Courage» im Kampf gegen die SVP. Die 50-Jährige mobilisierte schon gegen die Initiative, als diese erst als Drohkulisse existierte: «Das Ja zur Ausschaffungsinitiative 2010 war eine Zäsur. Ich wollte dafür sorgen, dass so etwas nicht noch einmal passiert.» Als der damalige SVP-Präsident Toni Brunner in einem Interview ankündigte, man prüfe eine Volksinitiative zur Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), musste sie handeln.
In den USA hatte sich Huber gegen die Todesstrafe engagiert, was ihr Bewusstsein für die Grundrechte schärfte. 2014 gründete sie die Organisation Schutzfaktor M (wie Menschenrechte). Sie veranstaltete Briefings für Politiker und Journalisten und baute ein Netzwerk im Parlament auf. Und sie organisierte Medienreisen an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg. «Wir waren der SVP immer einen Schritt voraus», bilanziert sie mit Genugtuung.
Für den Kampf gegen die Selbstbestimmungsinitiative konnte Andrea Huber 120 Organisationen an Bord holen. Schutzfaktor M nennt sich deshalb seit Mai 2018 «Allianz der Zivilgesellschaft». Sie verfügt über eine vierköpfige Geschäftsstelle in Bern, die ausschliesslich aus Frauen besteht. Seit September gehört die 23-jährige Politikstudentin Lea Schreier zum Team. «Ich habe Mühe mit dem Schweizbild der SVP», begründet sie ihr Engagement.
Am kommenden Montag beginnt der Schlussspurt. «Wir werden zuspitzen und vereinfachen, mit einem provokativen Video und Aktionen, die Aufsehen erregen», kündigt Andrea Huber an. Die plakative Kampagne sei ein Kontrapunkt zum Softie-Auftritt der SVP: «Er ist ein Täuschungsmanöver. Die SVP versucht so, ihr radikales Anliegen zu verbergen.»
Am 5. September bot sich im Berner Käfigturm ein bemerkenswerter Anblick. An einem langen Tisch sassen lauter Frauen: Sechs Nationalrätinnen aus allen parlamentarischen Fraktionen mit Ausnahme der SVP sowie drei Vertreterinnen des Forums Aussenpolitik (Foraus): die stellvertretende Geschäftsführerin Darja Schildknecht, Barbara Kammermann und Corinne Reber.
Die beiden Juristinnen präsentierten an der Medienkonferenz mit prominenter Beteiligung eine Studie, die sie mit Foraus-Vorstandsmitglied Tobias Naef verfasst hatten. Unter dem Titel «Nach ihr die Sintflut» zeigt das Papier die möglichen Folgen der Selbstbestimmungsinitiative anhand von zehn Punkten. «Wir liefern eine Informationsgrundlage für die Abstimmung», sagt Kammermann.
Der Thinktank Foraus veröffentlichte bereits 2016 ein erstes Papier zur SBI. «Wir wollten prägnanter und mit anderen Aspekten aufzeigen, welche Folgen die Initiative haben kann», betont Corinne Reber. Ende Dezember 2017 organisierte das Autorenteam ein «Crowdthinking» mit Foraus-Mitgliedern sowie Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft und NGOs. Einfach war die Aufgabe nicht, denn «die Initiative ist sehr schwammig formuliert», sagt Reber.
Beide Frauen haben Völkerrecht studiert. Barbara Kammermann ist Gerichtsschreiberin am Bezirksgericht Zürich, Corinne Reber arbeitet für eine Anwaltskanzlei. Die Arbeit für Foraus erfolgte ehrenamtlich. «Die Initiative widerspricht meinen juristischen Grundsätzen», begründet Kammermann ihre Motivation, Zeit und Energie in diesen Kampf zu investieren. Und Reber erklärt: «In einem Land, das rechtsstaatliche Grundsätze und den Minderheitenschutz untergräbt – wie es die Schweiz bei Annahme der SBI tun würde – möchte man nicht leben.»
Der erfolgreiche Kampf gegen die Durchsetzungsinitiative machte die Operation Libero schlagartig bekannt. Nach dem nicht ganz unproblematischen Ausflug in die Medienpolitik mit der Kampagne gegen No Billag ist die Organisation nun auf ihr gewohntes Terrain zurückgekehrt: Für das «Chancenland» Schweiz, gegen die SVP, im konkreten Fall gegen die Selbstbestimmungsinitiative.
Das Libero-Aushängeschild Flavia Kleiner hält sich heute eher im Hintergrund. Gegen die SBI rücken andere ins Rampenlicht, allen voran Co-Präsidentin Laura Zimmermann, die man bereits als «Veteranin» bezeichnen kann. Neu bei der Operation Libero ist Franziska Barmettler, doch auch sie ist alles andere als eine Anfängerin. Sie war Leiterin Politik bei Swisscleantech und Mitinitiantin der zurückgezogenen Volksinitiative «Raus aus der Sackgasse!» (Rasa).
Weil 49 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer laut einer Studie nicht wüssten, was Völkerrecht ist, hat die Operation Libero eine Online-Informationsoffensive lanciert. «Es ist eine wahnsinnig komplizierte Initiative mit vielen offenen Fragen», sagt Laura Zimmermann. Über WhatsApp, den Facebook Messenger und ein Kontaktformular auf der Website können die Bürgerinnen und Bürger Fragen an das Team der Operation Libero stellen.
In den knapp sechs Wochen bis zur Abstimmung werde man «Vollgas» geben, verspricht Zimmermann. Mit besonderem Misstrauen verfolgt man bei der Operation Libero die «Plüschtier»-Kampagne der SVP. «Diese Strategie ist überraschend und sehr unehrlich», meint Franziska Barmettler. Für Zimmermann ist diese «Verwirrungstaktik» der SVP gefährlich. Sie vermutet, dass die Partei in der heissen Phase des Abstimmungskampfes härtere Töne anschlagen könnte.
Für Franziska Barmettler haben Frauen eher ein Gespür für Wertefragen als Männer: «Wenn gewisse Errungenschaften angegriffen werden, schliessen wir unsere Reihen.» Laura Zimmermann erkennt ein Jahr nach der #Metoo-Bewegung eine Aufbruchstimmung: «Das Engagement der Frauen fällt im Kontext der SBI erstmals auf. Das ist gut, aber es müsste immer so sein.»
Vielleicht ist die auffällige weibliche Präsenz bei den NGOs weniger eine Gender- als eine Generationenfrage. Die hier vorgestellten Frauen sind mit Ausnahme von Andrea Huber zwischen Anfang 20 und Mitte 30. Für sie ist ein Engagement selbstverständlicher als für Vertreterinnen früherer Generationen, die noch mit den klassischen Rollenbildern im Kopf aufgewachsen sind.
Was auch immer geschieht: Wenn die SVP-Initiative scheitert, werden am 25. November alle Gegner feiern, unabhängig von Alter, Herkunft und Geschlecht.