Mitte dieses Monats stach die Rasierapparat-Marke Gillette in ein Wespennest. In einem Werbespot übt sie Kritik an gängigen Vorstellungen von Männlichkeit. Darin zu sehen sind Männer, die in eine Prügelei eingreifen, die ihre Kollegen zurechtweisen, wenn sie einer Frau nachstarren oder die sich liebevoll um das Töchterchen kümmern.
Vorbei sind die Zeiten des Mannes, der mit muskelbepacktem Oberkörper vor dem Spiegel steht und sich selbstsicher lächelnd über das glattrasierte Kinn streicht. Dieser Sinneswandel sorgte für grossen Aufruhr. Der Werbespot wurde zum viralen Hit, in den sozialen Medien erntete er viel Lob aber vor allem auch viel Kritik. Es folgten Wutausbrüche und Boykottaufrufe, weil Gillette einen «Krieg gegen die Männlichkeit» führe.
Befindet sich die Männlichkeit in einer Krise? Was stimmt denn nicht mit den Männern? Zeit für ein klärendes Gespräch mit einem, der die Männlichkeit erforscht.
Herr Luterbach, die Rasierapparat-Marke Gillette übt Kritik an der Männlichkeit und thematisiert das in ihrem neuen Werbespot. Dieser fand enorme Beachtung im Netz. Was halten Sie von der Werbung?
Ich war etwas überrascht davon, dass Gillette eine solch pointierte Werbung produziert. Als Männlichkeitsforscher ist das für mich Ausdruck davon, wie dringend die Auseinandersetzungen um das Geschlecht und insbesondere um die Männlichkeit sind. Die Werbung von Gillette zeigt, dass die Debatte nun in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist.
Kritiker beanstanden, die Gillette-Werbung sei ein Angriff auf die Männlichkeit. Im britischen Frühstücksfernsehen wurde die Frage diskutiert, ob ein «Krieg gegen die Männlichkeit» im Gange ist. Wie sehen Sie das?
Grundsätzlich bin ich der festen Überzeugung, dass es eine Debatte ist, der wir uns nicht verschliessen können. Wir müssen sie führen. Was ich allerdings wichtig finde, ist dass sie nicht polemisch geführt wird. Natürlich handelt es sich hierbei um eine Werbung und nicht um einen gesellschaftspolitischen Kommentar. Die Kritiken, die in der Werbung benannt werden, teile ich grösstenteils. Es geht um Mansplaining, darum, wie sich Männer konkurrieren, um Gewalt unter Männern und gegenüber Frauen. Aber was die Werbung dann macht, ist eine Gegenüberstellung: Das sind die schlechten Männlichkeitsbilder und das die guten. Und wenn man sich für Gillette entscheidet, entscheidet man sich richtig.
Ist die Männlichkeit in einer Krise, so wie es manche Stimmen sagen?
Ich selber würde sagen: Ja, die Männlichkeit, wie wir sie bisher verstanden haben, befindet sich in einer Krise. Sie verändert sich und man weiss derzeit noch nicht so genau, in welche Richtung es mit ihr gehen wird.
Was ist denn das Problem mit dem traditionellen Männerbild?
Bis in die 70er-Jahre haben Männer den Frauen das Stimmrecht verwehrt. Vergewaltigung in der Ehe war gesetzlich erlaubt. Diese Zustände empfand man als richtig und legitim. Heute haben sich die Gesetze verändert. Vergewaltigung ist auch in der Ehe eine Straftat und Frauen dürfen an der Urne wählen und abstimmen. Das heisst, es haben tiefgreifende Veränderungen im Geschlechterverhältnis stattgefunden. Und doch hat sich seither kein neues Männerbild richtig durchgesetzt und neben neuen sind traditionelle Vorstellungen noch immer allgegenwärtig. Es ist eine paradoxe Situation, in der grundlegende Fragen erst richtig aufgeworfen werden.
Warum befindet es sich heute in einem Wandel?
Heute ist es beispielsweise die Debatte um #Metoo, die zeigt, dass viele Frauen aber auch viele Männer, gewisse männliche Verhaltensweisen nicht mehr akzeptieren wollen und sich dagegen zu wehren beginnen. Dazu gehören Übergriffe, das Nicht-Wahrnehmen von Frauen, Mansplaining, und so weiter. Alles in allem männliche Praxen, die zunehmend als störend empfunden werden und über die gesprochen werden muss, die jedoch gleichzeitig gesellschaftlich gelebt werden.
Wie soll denn der Mann von heute sein?
Es gibt kein Regelwerk, das besagt, wie ein Mann sein soll. Vielmehr ist es ein Ausdruck von den Auseinandersetzungen, die derzeit laufen, dass wir uns diese Frage so intensiv stellen. Es wird deutlich, dass alte Vorstellungen von Männlichkeit nicht mehr zeitgemäss sind und dass sich Männer wie auch Frauen immer weniger an diesen alten Männerbildern orientieren mögen.
Das klingt verwirrend. Woran sollen sich die Männer denn orientieren?
Dass Männer momentan vielleicht gar nicht so genau wissen, wie sie Männlichkeit definieren wollen, finde ich nicht schlimm. Im Gegenteil geht es ja gerade darum, dass sich Männer zu fragen beginnen, wie sie Männlichkeit für sich definieren wollen. Im Übrigen ist es so, dass sich das Männerbild historisch immer wieder verändert hat. Dass es sich nun im Wandel befindet, ist absolut nichts Neues.
Im Zusammenhang mit der Gillette-Werbung war oft von einer «toxischen Männlichkeit» die Rede. Was ist mit dem Begriff gemeint?
Toxische Männlichkeit ist ein Begriff, der in den letzten Jahren sehr prominent in der Debatte aufgetaucht ist, was beachtenswert ist. Meistens bezeichnet es gewisse Verhaltensweisen, die zur dominanten Form von Männlichkeit gehören und unter der andere Männer als nichtmännlich, schwul oder weiblich abgewertet werden.
Inwiefern ist toxische Männlichkeit etwas Problematisches?
Diese Verhaltensweisen sind mitverantwortlich, dass Männer öfter sexuell übergriffiges Verhalten und Gewalt ausüben aber auch der tägliche selbstverständliche Sexismus gehört dazu. Schliesslich geht es aber auch um Verhaltensmuster, die aus unserem gewohnten Blick als unbedenklich erscheinen, wie beispielsweise das ständige Raufen und sich im Wettstreit messen. Der Begriff «toxische Männlichkeit» thematisiert, dass in diesen «Spielen» gewisse Muster gelernt werden, die dazu führen, dass Männer häufiger in Gewaltstatistiken auftauchen, aber auch Suizide häufiger von Männern begangen werden. Gerade die aktuelle Kritik bringt das Ausmass solch toxischer Verhaltensweisen erst richtig ans Licht, weil sie von vielen benannt und damit in ihrer sozialen Bedeutung erst richtig verstanden werden.
Warum verhalten sich Männer toxisch, wenn dies ihnen offenbar auch selber schadet?
In den so genannten «ernsten Spielen des Wettbewerbs» erfahren die Jungs Zugehörigkeit und Anerkennung. Wer nicht mitspielt, wird zum Aussenseiter, das kann für Männer, die nicht bereits ein starkes Selbstbewusstsein entwickelt haben, schwierige Konsequenzen haben. Damit werden auch für die Männer die Kehrseiten des ausgeprägten Dominanzstrebens deutlich. Es sind Verhaltensweisen, in der die einen anerkannt und die anderen abgewertet werden.
Heisst das im Umkehrschluss, dass alle Männer toxisch sind?
Nein. Männer haben ein sehr vielfältiges Verhältnis zu Männlichkeit und sehr unterschiedliche Vorstellungen davon. Es gibt ja auch Männer, die sich gegen gewisse Verhaltensweisen wehren. Zu sagen, dass alle Männer toxisch sind, ist demnach falsch. Aber Männer müssen sich mit den gesellschaftlichen Männlichkeitsanforderungen in ihrem Leben auseinandersetzen. Und sie machen das auf unterschiedliche Art und Weise.
Nicht alle setzen sich für neue Männlichkeitsbilder ein. Es gibt auch Frauen, die monieren, dass das gängige Männerbild zunehmend einem verweichlichten, feminisierten Mann weiche. Das sei unattraktiv. Bevorzugen Frauen harte Kerle?
So einfach ist es nicht. Genauso wie es viele Männer gibt, die Mühe mit den Veränderungen haben, haben auch Frauen Mühe damit und manche stellen sich dagegen. Auch Frauen haben gelernt, wie sie in dieser Geschlechterordnung Wirkung erzielen und Anerkennung und Wertschätzung erhalten. Wenn diese nicht mehr angenommen werden, kann das auch für Frauen schwierig sein und beispielsweise Angst vor Abwertungen auslösen. Jedoch gibt es bereits eine längere Tradition von Frauen, die ihre Konflikte zwischen ihren eigenen Wünschen und dem gesellschaftlichen Frauenbild formulieren.
Was ist von biologistischen Argumenten zu halten, die argwöhnen, dass der Mann nun mal ist wie er ist: Mutiger, kräftiger, abenteuerlustiger. Und das aufgrund seines Hormonhaushalts, seines Körpers, seiner Statur?
Den Zusammenhang zwischen Männlichkeit und Mut kann man historisch bestimmt nachvollziehen. Nur hat das wahrscheinlich mehr mit Karl May zu tun, als mit Hormonen. Wenn es da tatsächlich einen Kausalzusammenhang gäbe, müssten wir die Debatte gar nicht erst führen. Schliesslich erinnern wir uns bei Naturgesetzen wie der Schwerkraft nicht ständig an sie, um die Gefahr abzuwenden, dass wir sie mal vergessen und auf einmal in der Weltgeschichte herumfliegen. Dass wir so bestrebt sind, ständig an die Biologie der Geschlechter zu erinnern und sie zu beweisen, zeigt doch schon, dass hier soziale Prozesse wirken.
Warum ist das Thema für gewisse Leute so bedrohlich? Ruft gar Ängste hervor bei Männern wie auch bei Frauen?
Weil es um sehr grundlegende Fragen geht wie: Wie wollen wir zusammen leben und wie wollen wir unser Leben gestalten? Es geht auch um Liebe und um Sexualität, um sehr intime Fragen nach welchen Prinzipien oder Vorstellungen wir unser Leben gestalten möchten. Zudem fühlen sich Männer oft bedroht, wenn ihre gelebten Selbstverständlichkeiten hinterfragt werden und erleben Kritik oft als eine Zumutung.
Wie schaffen wir es, solche grundsätzlichen Fragen vom Mensch-Sein zu beantworten?
Einen Leitfaden dafür gibt es nicht. Was momentan die Anforderung unserer Zeit ist, ist sich mal zuzuhören, andere Bedürfnisse wahrzunehmen und diese nicht gleich als Bedrohung zu sehen. Es braucht Offenheit für die Auseinandersetzung – das heisst vielleicht auch, dass man anfangs gar nicht weiss, was das nun für einen selbst bedeutet.