Drei Worte waren es, die wie Glockenschläge am 24. Januar durch die Schweizer Medienlandschaft hallten: «aus der Balance». Eveline Widmer-Schlumpf, alt Bundesrätin und Ex-Finanzministerin, kritisierte in einem Interview mit dem Blick die Unternehmenssteuerreform III. Eine Vorlage, an der sie als Finanzministerin selber mitgearbeitet hatte.
Die Worte der BDP-Politikerin zeigten Wirkung. Die USR III wurde überraschend abgelehnt, in einer Studie gab ein Drittel der Befragten an, bei ihrer Entscheidung Empfehlungen gefolgt zu sein, der Name der alt Bundesrätin wurde dabei auf Seiten der Gegner am häufigsten genannt. Das Ja-Lager heulte schon zuvor auf: eine alt Bundesrätin, noch dazu eine, die massgeblich an der Ausarbeitung eines Gesetzes beteiligt gewesen war, habe sich gefälligst nicht in den Abstimmungskampf einzumischen.
Spätsommer 2017. Drei Wochen vor der Abstimmung über die Altersvorsorge 2020, Umfragen sehen ein knappes Resultat voraus, das Stimmvolk scheint gespalten. Und wieder gibt Eveline Widmer-Schlumpf ein Interview, das für viel Wirbel sorgt. In der Sonntagszeitung legt die Bündnerin dar, weshalb die Vorlage ihrer Meinung nach «in der Balance» sei.
Politologe Mark Balsiger glaubt, dass die Worte Widmer-Schlumpfs auch dieses Mal wieder Wirkung entfalten könnten – auch wenn die Vorzeichen jetzt ganz andere sind. Erstens tritt Widmer-Schlumpf nicht als «Architektin» der Vorlage auf, zweitens sind die Sozialversicherungen nicht ihre Domäne und drittens liegt sie mit ihrer Haltung auf der Linie von Regierung und Parlament. «Kommt hinzu, dass sich Widmer-Schlumpf im Gegensatz zur USR III dieses Mal vor allem als Präsidentin von Pro Senectute äussert, so legitimiert sie auch ihre Intervention.»
Nichtsdestotrotz könne Widmer-Schlumpf aber mit ihrem Auftreten nochmals eine neue Dynamik im Abstimmungskampf auslösen, sagt Balsiger. «Ähnlich wie die USR III ist auch die Altersvorsorge 2020 eine komplexe Vorlage, die das Stimmvolk teils konfus macht.» Umso wichtiger seien glaubwürdige Figuren, an denen man sich orientieren kann.
Alt Bundesräte, die sich bei nationalen Abstimmungen zu Wort melden, gibt es immer wieder. Moritz Leuenberger weibelte für die zweite Gotthardröhre, Pascal Couchepin schoss gegen die Energiestrategie 2050, und jüngst stieg auch Ruth Dreifuss, alt Bundesrätin der SP, in den Ring und plädierte in der «Arena» und in der Aargauer Zeitung für die Annahme der AHV-Reform.
Im Gegensatz zu Eveline Widmer-Schlumpf erwartet Balsiger von Dreifuss' Voten aber keinen nennenswerten Effekt auf das Abstimmungsergebnis. «Ruth Dreifuss ist eine populäre, hoch geschätzte Figur, souverän, gewinnend im Auftreten. Aber, so der Politologe, «sie wird zeitlebens als Linke und Gewerkschafterin wahrgenommen». Widmer-Schlumpf hingegen als stramm bürgerliche Politikerin habe eine viel grössere potentielle Anhängerschaft. Zudem geniesse Widmer-Schlumpf nach der Hexenjagd der SVP noch immer eine Art Märtyrerstatus. «Das vergessen die Leute nicht.»
Balsiger sieht Widmer-Schlumpf in einer Reihe von herausragenden Schweizer Politikern, die eine besondere Strahlkraft ausübten – weit über ihre Partei hinaus. «Gallionsfiguren wie Adolf Ogi, Franz Steinegger, Willy Ritschard oder eben Widmer-Schlumpf gelang es ihr grosses politisches Gewicht in die Waagschale zu werfen, weil sie genau spürten, was das Volk will.» Menschennähe, Charisma und Integrität seien dabei die zentralen Charaktereigenschaften.
Von ‹servir et disparaître› hielten Ex-Bundesräte wie Moritz Leuenberger, Micheline Calmy-Rey, Christoph Blocher und Pascal Couchepin nichts – geschadet hat es ihnen nicht. Dass Widmer-Schlumpf nach ihrem Ausscheiden beteuerte, man werde von ihr «sicher keinen Kommentar zu politischen Themen auf Bundesebene mehr hören», scheint im Herbst 2017 sehr lange her.