Zeit, Roberto Mancini braucht viel Zeit. Der 53-jährige Italiener hat es sich nämlich zur Aufgabe gemacht, aus Italien diese grosse Fussball-Nation zu machen, die es einmal war. Der über Jahre verpasste Kaderumbruch der «Azzurri» hat unter Mancini begonnen. Doch Italien zahlt erstmal den Preis, um das Verpasste nachzuholen.
Dieser Preis ist hoch. In den beiden Partien gegen Polen und Portugal hat Italien, gelinde ausgedrückt, Magerkost geboten. Und das in den ersten beiden Pflichtspielen unter dem neuen «Commissario Tecnico» in der Nations League. Italiens Rückkehr auf die Fussball-Landkarte, nachdem man die WM 2018 «ausgelassen» hat, war erschreckend schwach. Allerdings nicht überraschend.
Beim Heimspiel am Freitag in Bologna gegen Polen hatte Italien bereits grosse Mühe und kam in einer schwachen Partie durch einen glücklichen Penalty immerhin zu einem 1:1.
Gegen Portugal gestern war der Auftritt aber schon alarmierend harmlos. Der Europameister, ohne Superstar Cristiano Ronaldo angetreten, dominierte Italien nach Belieben und hätte höher als 1:0 gewinnen müssen.
Das einzige Tor schoss ausgerechnet André Silva – der Mann, der sich bei der AC Milan nicht gegen den 19-jährigen Italiener Patrick Cutrone durchsetzen konnte und zu Sevilla weiterzog. Während Silva gegen Ex-Teamkollege Gigi Donnarumma traf, war Cutrone nicht mal im Aufgebot der italienischen A-Nationalmannschaft. Er war bei der U21 im Einsatz.
Italien war in den beiden Partien gegen Polen und Portugal unkreativ, überfordert und harmlos. Quer- statt Steilpässe. Angst statt Mut. Reagieren statt agieren. Während 180 Minuten hat Italien kaum einen gelungenen Spielzug zustande gebracht.
Und weil die Idee fehlte, wie man gefährlich vor das gegnerische Tor kommen könnte, machte Italien, was man halt macht, wenn man kein Selbstvertrauen hat und keine Lösungen findet: Pässe in die Füsse der Flügelspieler, von da nochmals zurück und dann Alibi-Flanken aus dem Halbfeld. Genau auf diese Weise schied man bereits in den WM-Playoffs gegen Schweden aus. Spielerisch ist Italien unter Mancini bisher stagniert.
Die grosse italienische Problemzone ist das Mittelfeld. Ohne den verletzten Marco Verratti fehlt da die Wettbewerbsfähigkeit. Zwar hat man mit Jorginho einen Brasilianer eingebürgert, der jetzt bei Chelsea gross aufspielt, doch der 26-Jährige wirkt in der Nationalmannschaft hilflos. Spieler wie Bryan Cristante, Roberto Gagliardini oder Lorenzo Pellegrini an seiner Seite haben (noch) nicht genügend Qualität.
Die zwei Länderspiele in der Nations League, geben allerdings auch Hoffnung. Denn Roberto Mancini ist offenbar gewillt, die momentanen Resultate dem Umbruch unterzuordnen. So stellte er seine Mannschaft nach dem Polen-Spiel auf neun Positionen um. Bloss Torhüter Donnarumma und Jorginho durften in beiden Partien von Beginn weg ran.
Gegen Portugal war zum ersten Mal seit über 20 Jahren in einem Pflichtspiel kein Spieler von Juventus Turin in der Startelf. Und dies zu einer Zeit, in der Juventus die einzige Mannschaft in Italien ist, welche das Wort Erfolg in den letzten sieben Jahren nicht nur vom Hörensagen kennt.
Doch bei Juventus spiegelt sich auch ein Problem des italienischen Fussballs wieder: Längst sind es nicht mehr die Italiener, welche die Mannschaft prägen. Im zentralen Mittelfeld hat Juventus zum Beispiel keinen einzigen Italiener im Kader.
Die mangelnden Alternativen aus Italiens Talente-Topf haben auch dazu geführt, dass zum Beispiel der 24-jährige Manuel Lazzari zu seinem Länderspiel-Debüt kam. Ein Mann, der mit SPAL Ferrara von der Serie C (3. ital. Liga) bis in die Serie A aufgestiegen ist und dort mittlerweile gerade mal 39 Partien absolviert hat.
Dass Verteidiger Giorgio Chiellini mit acht Länderspieltoren gestern der beste Torschütze im Kader der Italiener war, sagt einerseits viel über die offensive Harmlosigkeit aus, allerdings auch über die vielen unerfahrenen Spieler, die von Mancini aufgeboten wurden.
Unerfahren ist dabei nicht unbedingt mit jung gleichzusetzen. Lorenzo Insigne, der wohl beste italienische Offensiv-Akteur, ist 27 Jahre alt. Er kommt bisher bloss auf 27 Länderspiele, weil ihm meist andere, ältere Spieler vor die Nase gesetzt wurden.
Und dennoch erlebt Italien gerade eine drastische Verjüngungskur. Im «neuen» italienischen Kader ist neben Giorgio Chiellini (34) bloss Leonardo Bonucci (31) potentieller Stammspieler, der schon über 30 Jahre alt ist. Junge, vielversprechende Talente wie Gianluigi Donnarumma (19) Alessio Romagnoli (23), Mattia Caldara (24), Lorenzo Pellegrini (22), Nicolo Barella (21), Federico Chiesa (20), Federico Bernardeschi (24) oder Andrea Belotti (24) gibt es einige.
Die meisten wurden die letzten Jahre nicht beachtet und werden jetzt dafür ins kalte Wasser geworfen. Statt sie langsam aufzubauen, sollen sie plötzlich viel Verantwortung übernehmen.
Derzeit erlebt die Serie A – vor allem dank guten Ausländern – einen Aufschwung. Wenn es die italienischen Klubs schaffen, auch den einheimischen Spielern wieder mehr Spielzeit zu gewähren, wird sich auch die Squadra Azzurra erholen. Bis dahin wird das Team von Roberto Mancini noch viel Lehrgeld bezahlen müssen.
Noch hat Mancini, ausser dem Druck aus den italienischen Medien, keinen Resultate-Stress. Die Nations League kann er vernachlässigen, viel eher muss er bis im nächsten Frühling, wenn die EM-Qualifikation beginnt, eine konkurrenzfähige Mannschaft aufstellen. Der Um- und Aufbruch braucht neben Vertrauen nämlich vor allem eines. Viel Zeit.