Was zeigt er als nächstes? Wieder den Doppeladler? Wieder den Griff in den Schritt? Kramt er das Jashari-Trikot nochmals hervor? Und was plant er auf den sozialen Medien als flankierende Massnahme? Oder überlegt er sich etwas ganz Neues?
Wie immer, wenn die Fussball-Nati zusammenkommt, ist Granit Xhaka so etwas wie die Achse, um die sich das Rad dreht. Dieses Mal ist es sogar so, dass er noch etwas stärker im Fokus steht als gewöhnlich. Der Grund dafür heisst wieder einmal Serbien. Das ist zwar nicht der nächste Gegner, aber die Destination der nächsten Reise. In Novi Sad startet die Nati am Samstag gegen Weissrussland in die EM-Qualifikation.
Warum Serbien? Belarus darf keine Länderspiele auf eigenem Territorium austragen, weil sein Präsident Alexander Lukaschenko den grossen Bruder im Geiste, Wladimir Putin, im Angriffskrieg auf die Ukraine unterstützt. Weil Serbien als eines von wenigen Ländern in Europa noch diplomatische Beziehungen zu Weissrussland pflegt und von der UEFA nicht sanktioniert ist, hat man sich in Minsk für Novi Sad als Spielort entschieden.
Auch wenn das Spiel unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden soll, hat die Zustimmung der UEFA für Novi Sad als Spielort eine fast schon zynische Note. So, als hätte es an den letzten beiden Weltmeisterschaften vor, während und nach den Partien zwischen Serbien und der Schweiz keine Reibereien gegeben. Aber noch fragwürdiger als die Reise nach Novi Sad ist die Tatsache, dass Weissrussland überhaupt zur EM-Qualifikation zugelassen ist. Zu rütteln gibt es daran aber längst nichts mehr, die Schweizer Nati muss sich damit arrangieren.
Also rückt Xhaka eben nochmals etwas stärker in den Brennpunkt als sonst. Auch, weil sein Compagnon Xherdan Shaqiri, mit dem er das Rampenlicht und die Wurzeln teilt, verletzt ist und gar nicht erst aus Chicago angereist ist.
Die Wurzeln, immer wieder. Aber genau darum geht es. Es ist seine kosovarische Herkunft, die Xhaka in Serbien zur Persona non grata machen. Und es ist die gleiche Herkunft, an der sich Teile der Schweizer Bevölkerung stören, wenn Xhaka einen Fehlpass spielt, mit einer Luxuskarre vorfährt, eine ulkige Frisur trägt oder sich nicht impft.
In Serbien ist er quasi auf verlorenem Posten. Selbst wenn sich Serbien und Kosovo irgendwann mal im Gänsemarsch aufeinander zubewegen sollten, wird Xhaka vielleicht Zeit seines Lebens nie mit Blumen in Belgrad beworfen – ausser, sie stecken noch in Terracotta-Töpfen.
Zu tief sind die Gräben zwischen den beiden Nationen, als sich eine Entspannung auch nur andeuten würde. Egal, ob Doppeladler, Griff in den Schritt oder das Jashari-Shirt: Xhaka hat sich mit seiner Art, die eigenen Emotionen ungefiltert entweichen zu lassen, nicht gerade als Vermittler zwischen Serbien und Kosovo aufgedrängt. Eher ist er mit seinen Aktionen erst recht zum Feindbild für serbische Nationalisten geworden.
In der Schweiz hingegen kommen diese Aktionen auch nicht bei allen besonders gut an. Warum eigentlich? Weil jene, die Xhaka auf dem Kieker haben, am liebsten einen Xhaka hätten, der Hugentobler heisst, auf dem Platz zwar mindestens so gallig, genial und selbstbewusst auftritt wie Xhaka, aber daneben ein Leben führt wie der propere, unauffällige Herr Hugentobler aus dem oberen Stockwerk, der nie Lärm macht, immer anständig grüsst, auf dem Balkon den Grill nie anschmeisst und die Waschküche nur dann benutzt, wenn er eingetragen ist. Aber diese Kombination ist undenkbar. «Ich bin stolz, für die Schweiz spielen zu können. Meine Herkunft kann ich aber nicht leugnen», sagt Xhaka.
Deshalb hat es ihn so unfassbar wütend gemacht, als im Blick ein Leserkommentar veröffentlicht worden ist, der mit dem Satz beginnt: «Ach was waren das noch Zeiten, als die Natispieler Suter, Egli, Wehrli und Sulser geheissen haben.» Xhaka tat nicht, was ihm empfohlen wurde. Beispielsweise von Trainer Yakin, der «lieber den Fight auf dem Platz will, weil alles andere stört und nichts bringt». Aber Xhaka wäre nicht Xhaka, wenn er das unkommentiert im Raum stehen lassen würde, weil «das für mich Rassismus ist. Mir war wichtig, dass es meine Follower sehen.»
Xhaka ist der bedeutendste Fussballer, den die Schweiz gesehen hat, gerade weil er ein Ehrgeizling mit grosser Klappe ist, der so extrovertiert und selbstbewusst auftritt, dass man schon mal die Stirn in Falten legt, weil er Dinge sagt wie: «Zehn Jahre spiele ich auf diesem Niveau. Einen Spieler mit diesem Ehrgeiz und diesem Hunger, den gibt es einmal – und das bin ich.»
Torhüter Jonas Omlin bringt es im Nati-Dokfilm «The Pressure Game» ziemlich gut auf den Punkt: «Jedes Mal, wenn ich mit jemandem über ihn rede, muss ich ihn in Schutz nehmen. Xhaka ist ein geiler Spieler. Er hat genau die Mentalität. Er ist das Arschloch auf dem Platz, das jedes Spiel gewinnen will.» Das tönt derb, ist aber nicht so gemeint. Was Omlin damit sagen will: Xhaka ist gnadenlos gegenüber sich und dem Gegner und erwartet diese Attitüde auch von seinen Mitspielern.
Geliebt im eigenen Lager, verhasst beim Gegner? So simpel ist es nicht für Xhaka. Und manchmal tut er selber einiges dafür, dass es nicht so einfach ist für ihn. Beispielsweise, wenn er beim FC Arsenal auf die Pfiffe der eigenen Fans mit «Fuck off» reagiert. Oder sich wie ein beleidigtes Kind aufführt, wenn er in einem Testspiel gegen Kosovo ausgewechselt wird.
Oder eine Leistung, die ihn selbst nicht zufrieden stellt, damit erklärt, dass er vom Trainer auf einer falschen Position aufgestellt worden sei. «Ich bin sehr emotional und gerate deswegen schnell in eine Negativspirale», gesteht er im Dokfilm. «Das ist ein Punkt, in dem ich mich verbessern muss.»
Es war auch für Nati-Trainer Murat Yakin herausfordernd. Erst musste er ohne seinen Captain in der WM-Qualifikation auskommen. Und als Xhaka vor einem Jahr wieder zur Verfügung stand, irritierte er mit seinem Verhalten und seinen verbalen Spitzen, was man beides als Kritik am Trainer auffassen konnte.
Doch Yakin tat, was er speziell gut kann: gelassen bleiben. Er ging nicht auf Konfrontation, suchte nicht den öffentlichen Hahnenkampf, sondern nahm sich Xhaka intensiv an. Einerseits, weil seine eigenen Erinnerungen an den Spieler Yakin, der stets auch eine Herausforderung für die Trainer war, nicht verblasst sind. Andrerseits, weil er die Selbsteinschätzung Xhakas («Ich weiss, dass die Nati mich braucht. Ich weiss, dass ich der richtige Captain bin») teilt.
Heute sagt Yakin: «Als er beim FC Arsenal wegen Karten und Äusserungen in die Kritik geraten ist, habe ich mit ihm intensiv darüber gesprochen und ihm erklärt, wie man sich als Leader auf dem Platz verhalten soll. Seit eineinhalb Jahren verhält er sich auf und neben dem Platz vorbildlich, wird von den eigenen Fans geliebt und geniesst in ganz England höchste Anerkennung.»
Ja, wir sehen derzeit wohl den besten Xhaka. Einen, der mit seinem Klub Arsenal drauf und dran ist, den ersten Meistertitel seit 2004 zu gewinnen. Weshalb er, obwohl auch schon 30, nicht an ein Ende denkt. Für ihn ist jetzt schon klar, dass er 2026 die WM bestreiten wird. Und wahrscheinlich auch danach noch nicht Schluss ist in der Nationalmannschaft.
Bis dahin wird er Heinz Hermann mit dessen 118 Einsätzen längst überflügelt haben. Xhaka ist jetzt bei 111 Partien für die Schweiz. Wenn alles normal läuft, kann er sich im Herbst, kurz nach seinem 31. Geburtstag Rekordnationalspieler nennen.
Auch das ist eine Realität des Schweizer Fussballs: Nicht Hermann, nicht Suter, nicht Hugentobler, sondern Xhaka, der Mann mit den Wurzeln im Kosovo, ist die Gallionsfigur unseres Fussballs. Das sollten wir nicht vergessen. Auch dann, wenn er uns mit seinem Verhalten für einen Moment irritiert.