Der malerische Nachmittag in Genf neigt sich dem Ende zu. Drinnen im Bauch des Stade de Genève versucht Haris Seferovic gerade, irgendwie eine plausible Erklärung zu finden für die dämliche rote Karte, die den beschwingten Schweizer Auftritt gegen Belgien etwas trübt. Da taucht er plötzlich auf: Lucien Favre.
Der ehemalige FCZ-Meistermacher hat so etwas wie ein doppeltes Heimspiel. Als Servette-Legende und als ehemaliger Trainer ziemlich vieler Schweizer Nationalspieler, zu ganz verschiedenen Zeiten. Frisch sieht er aus. Und immer trägt er ein Lächeln auf dem Gesicht. Mal eine Umarmung hier, dann ein kleiner Schwatz da. «Lulu» ist wieder da. Aufgetaucht aus der Anonymität. Am letzten Dienstag hat ihn der französische Klub OGC Nizza als neuen Trainer vorgestellt.
Es hat manch einen gegeben, nicht nur in der Romandie, der das Projekt «Favre und die Nationalmannschaft» noch so gerne erkundet hätte. Und wenn man Favre zuhört, wie er über das Schweizer Team spricht, so könnte das ja tatsächlich sehr spannend sein. Irgendwann einmal.
Favre lobt das Schweizer Team für eine sehr ansehnliche erste Hälfte. Wie die Mannschaft den (wohl etwas voreilig) als EM-Mitfavoriten gehandelten Gegner Belgien vor Probleme stellte, stimmt zuversichtlich. Nur einmal wird Favre ganz Favre – als er eine Prognose für die EM wagen soll. Jetzt werden seine Augen ganz gross. «Oh, alle, alle, alle denken, der Achtelfinal sei Pflicht.» Pause. Ist das ein gefährliches Denken? Favre seufzt. Dann sagt er: «Es kommt gut!»
Auch für ihn selbst, ab Sommer in Nizza? Das Projekt hat ihn gereizt. Nizza, in der abgelaufenen Saison Vierter der häufig unterschätzten Ligue 1 (und damit für die Europa League qualifiziert), ist eine Mannschaft mit Perspektiven. Die allermeisten Spieler sind Franzosen. Zwölf Profis sind 24-jährig oder jünger. Nizza ist eines der jüngsten Spitzenteams ganz Europas. «Ich sehe hier die Möglichkeit, etwas zu entwickeln», sagt Favre.
Der Verein ist strukturell gut aufgestellt, hat ein neues Stadion und wird bald über eine moderne Nachwuchs-Akademie verfügen. All das – und nicht etwa die Côte d’Azur – haben Favre überzeugt, wieder als Trainer einzusteigen. Und vielleicht gelingt es Favre ja doch noch, den manchmal etwas exzentrischen Star des Teams, Hatem Ben Arfa, vom Verbleib in Nizza zu überzeugen.
Was der Verein in Favre sieht, hat der Chef des Klubs bei der Verpflichtung treffend beschrieben. Einen «anspruchsvollen, sorgfältigen und leidenschaftlichen» Trainer. Der Präsident Jean-Pierre Rivère, der sein Vermögen mit Immobilien gemacht hat, kam bei Favres Präsentation nicht mehr aus dem Schwärmen heraus. Es ist trotzdem nicht auszuschliessen, dass der Verein Favres Akribie – und manchmal auch die Zweifel, die er ja stets irgendwie hegt – kennen lernen muss.