Sepp Blatter, am 11. Dezember will die FIFA unter Boss Gianni Infantino zwei Weltmeisterschaften gleichzeitig vergeben – Ausgabe 2030 müssen sich sechs Länder teilen, Ausgabe 2034 soll dem Unrechtsstaat Saudi-Arabien zugeschanzt werden. Was halten Sie vom vorgesehenen Prozedere?
Sepp Blatter: Es ist eine Farce. Die beiden Weltmeisterschaften werden ja im gleichen Paket vergeben. Und es gibt gar keine Auswahl, sondern pro Austragungstermin nur einen Bewerber: Für die WM 2030 ist es das Gespann Spanien, Portugal, Marokko, mit den Eröffnungsspielen in Uruguay, Argentinien und Paraguay. Für 2034 ist es Saudi-Arabien.
Also eine Ausmarchung nach chinesischem Muster?
Oder nach russischem. Absonderlich ist zudem: Der ausserordentliche Kongress zur Doppelvergabe der Weltmeisterschaften 2030 und 2034 in Zürich findet nur virtuell statt. Man stelle sich das vor. Der Wahlkörper kommt also physisch gar nicht zusammen.
Was, denken Sie, ist der Grund?
Gianni Infantino will die Vergabe steuern können. Der übliche persönliche Meinungsaustausch unter den Mitgliedern am Vorabend der Wahl ist so nicht möglich. Eine «Nacht der langen Messer» kann es so nicht geben. Es ist am Kongress selbst auch nicht möglich, aufzustehen und das Wort zu ergreifen. Ich sehe es schon kommen: Weil der Kongress virtuell ist, bestimmt die Regie, wer zu Wort kommt.
Aber in der FIFA wehrt sich niemand?
Dieses Prozedere und weitere Entscheide wurden im Mai an einem FIFA-Kongress in Bangkok in einer einzigen Abstimmung per Akklamation beschlossen. Obwohl dies eindeutig gegen die Statuten der FIFA verstiess. Aber es hat sich jetzt eine Gruppe in der Schweiz zusammengetan, die versucht, den Schweizer Verband noch aufzurütteln. Die Gruppe heisst «For the Good of the Game». (Mehr über die Gruppe in der aktuellen Ausgabe des Fussball-Magazins «Zwölf», Anm.d.Red.).
Sind Sie da auch dabei?
Ich nicht, aber ein ehemaliger Mitarbeiter von mir. Die Gruppe möchte, dass der Schweizer Verband sich am FIFA-Kongress aktiv für Schweizer Werte wie Menschenrechte und Demokratie einsetzt. Zu diesen Werten passt eine WM in Saudi-Arabien bekanntlich nicht. Die Idee ist, dass die Schweiz oder auch ein anderer Verband, beispielsweise Norwegen, einen Antrag stellt, um die Vergabe an Saudi-Arabien noch zu verhindern.
Kann diese Gruppe etwas erreichen?
Wenn sie klug vorgeht, gibt es eine Chance. Ich würde nicht mit Menschenrechten argumentieren, weil die Saudis schon dafür besorgt sein werden, sie während der WM einzuhalten. Ich würde mit der Zeit argumentieren. Dass die WM 2034 jetzt noch gar nicht vergeben werden muss. Normalerweise geschieht dies ja sechs Jahre vor der Austragung, also bleiben noch vier Jahre. Ich würde argumentieren: Verschieben wir die Wahl, wir haben Zeit, das Dossier 2034 nochmals anzuschauen, das Bewerbungsverfahren nochmals zu öffnen. Dazu müsste vor dem Kongress ein entsprechender Antrag eingereicht werden. Es müsste jemand die Courage aufbringen, aktiv zu werden.
Aber an Courage hapert es im Sport?
Nehmen Sie den deutschen Verband. Er war vor der WM in Katar kritisch. Jetzt ist er still. Infantino steuert über Anreize und Posten.
Bei der FIFA geht es um immer mehr Geld. Infantino richtet mit grösserer Kelle an. Sie selbst sind aber nicht unschuldig an dieser Entwicklung. Unter Ihnen begann die FIFA einst, mit Sponsoren wie Coca-Cola, das grosse Geld zu machen.
Mein Vorgänger Havelange sagte mir nach der WM in Südafrika, bei der die FIFA erstmals so richtig Geld verdiente, ich hätte ein Monster kreiert.
Hatte er recht?
Er hatte recht. Ich habe ein Monster kreiert. Die FIFA war arm, als ich 1975 dort als Direktor für Entwicklungsprogramme begann. Die Sponsoren wie Adidas zahlten kein Geld, sie gaben nur Bälle und Trikots. Der erste Sponsorvertrag, der wirklich Geld brachte, war der 1976 mit Coca-Cola. Dazu kam das öffentlich-rechtliche Fernsehen, das plötzlich Werbung erlaubte. Der Fussball wurde zu einem Super-Produkt für das Fernsehen, zu einer Super-Show, die für viel Geld verkauft werden konnte. Die erste WM, die so richtig Geld brachte, war die 2010 in Südafrika. Als Infantino 2016 Präsident wurde, setzte er sich in ein gemachtes Nest, die Geldmaschine lief. Jetzt heizt er sie immer mehr an.
Bis sie explodiert?
Wir erleben den Ausverkauf des Fussballs. Nehmen Sie den europäischen Verband Uefa. Einst gab es einen Cup für die Meister, einen für die Cupsieger, noch einen für die Messestädte. Heute gibt es eine Champions League mit 36 Mannschaften, eine Europa League mit 36, eine Conference League mit 36. Und dann noch die Nations League. Und an der nächsten WM, 2026, nehmen schon 48 Länder teil, das ist fast ein Viertel aller FIFA-Mitgliedsländer. Dazu kommt ab 2025 die FIFA-Klub-WM mit 32 Mannschaften. Alle applaudieren, weil es einen Haufen Geld gibt. Aber diese Übersättigung führt dazu, dass das Interesse am Fussball schwindet, das merke ich bei mir selbst. Quo vadis, Fussball?
Ihnen verleidet der Fussball?
Du hast so viele Spiele, dass du nicht mehr weisst, was du schauen sollst. Und für das meiste sollst du auch noch bezahlen. Mir ist kürzlich beim Spiel zwischen Real Madrid und Milan aufgefallen, dass die zwei Mannschaften auf der Brust die gleiche Werbung hatten. Eine Fluggesellschaft aus den Emiraten. Einst hiessen die Sponsoren Nike oder Adidas, das waren Firmen mit Bezug zum Sport. Aber jetzt? Vor einigen Monaten schloss die FIFA einen Sponsor-Deal mit dem saudischen Ölkonzern Aramco ab.
Über 100 Profifussballerinnen protestieren dagegen und forderten die FIFA auf, den Vertrag zu beenden. Die Saudis, die Frauen unterdrückten, hätten «Milliarden für Sport-Sponsoring ausgegeben, um von dem brutalen Ruf des Regimes in Bezug auf die Menschenrechte abzulenken».
Als gläubiger Mensch glaubt man, dass auch andere Menschen glauben. Ich glaube tatsächlich, dass es den Arabern nicht nur um Geld oder um Fussball geht, sondern auch um die Verbreitung ihrer Kultur und ihrer Werte. Mit Sport können sie die Welt glauben machen, dass sie ein offenes Land sind. Aber sind sie das, oder sind wir naiv? Ich will nicht als Missionar auftreten, ich kann mich irren, aber das beunruhigt mich.
Religion gehört für Sie nicht in den Sport?
Als ich 2013 bei Papst Franziskus war, schlug er mir vor, ein «Document of understanding» zwischen der katholischen Kirche und der FIFA zu unterzeichnen. Ich sagte ihm: «Franziskus, das geht nicht. Weil Fussball in allen Religionen gespielt wird.» Der Papst nickte und sagte, ich habe recht. Keine Religion darf den Fussball für sich vereinnahmen. Gar nicht einverstanden war der berühmt-berüchtigte Papst-Sekretär Gänswein, der mir beim Hinausgehen sagte, als Katholik wisse ich doch, dass der Papst unfehlbar sei. Ich hätte tun müssen, was er verlangt habe. Als ich zurückgab, der Papst habe meine Haltung ja geteilt, gab Gänswein einen verächtlichen Laut von sich und drehte sich ab. Ja, für mich ist klar: Der Fussball gehört allen Religionen.
Sie haben gefragt: «Quo vadis, Fussball?» Wohin geht er?
Es geht im Moment fast überall in die falsche Richtung. Die Eintrittstickets werden immer teurer. Mit der zunehmenden Kommerzialisierung gibt es auf allen Stufen mehr Gewalt, auf und neben dem Platz. Statt das zu bleiben, was er war, ein sozio-kulturelles Gut, ein Platz, wo du lernst zu gewinnen, aber auch zu verlieren, wird der Fussball immer mehr zum Schlachtfeld in jeder Hinsicht.
Wie ist das passiert?
Es ist alles zu gross geworden. Zu viel Geld, zu viele Spiele. Die Spieler verdienen zwar immer mehr, aber mit dem Geld steigt auch der Druck. Sie sind viel öfter verletzt, weil die Erholungsphasen mit den ständigen englischen Wochen viel zu kurz sind. Es gibt auch zu viel Technologie, bei Abseits, Toren oder Fouls. Nicht mehr der Schiedsrichter entscheidet, sondern das Fernsehen. Schiedsrichterentscheide zu respektieren, war aber eine der Charakterschulen im Fussball. Ich möchte hier aber noch auf etwas Positives hinweisen: die Förderung des Frauenfussballs in den vergangenen 40 Jahren.
Was muss jetzt geschehen?
Man muss schauen, dass der Fussball wieder menschlicher wird. Statt immer nur mehr, mehr, mehr. Wir müssen anfangen, Grenzen zu setzen. Schon auf dem Niveau der Klubs, der Klubwettbewerbe. Die Anzahl Spiele, Turniere, die Spielergehälter müssen reduziert werden, es braucht Obergrenzen, wie dies in den USA praktiziert wird.
Wie würden Sie das angehen, wenn Sie noch FIFA-Präsident wären?
Die einzelnen Konföderationen wie Uefa setzen sich selbst keine Grenzen, wie man sieht. Also braucht es einen weltweiten Ansatz, durch die FIFA. Es muss ein mehrtägiger Kongress in Zürich einberufen werden, der sich nur mit der Frage befasst, wie es mit dem Fussball weitergehen soll. Am ersten Tag bespricht man die Probleme, am zweiten Tag entscheidet man über Lösungen. Wie wir das schon einmal mit Erfolg machten, 2002, als die FIFA fast pleite war.
Ihr Nachfolger wird aber wohl sagen, es laufe ja gut, es sei immer mehr Geld da.
Ja, ich weiss, immer mehr, immer mehr. Er macht das Gegenteil von dem, was nötig wäre. Statt zu diskutieren, nach Lösungen zu suchen, veranstaltet er virtuelle Kongresse. So verkauft der Fussball seine Seele.
Was haben wir alle gedacht ist dieser Sepp doch ein Totsch und waren froh, als er weg war.
Gegenüber Infantino wirkt er direkt symphatisch und vernünftig!
Leider etwas spät, aber doch auch einsichtig.
DOCH: Diese Kritik aus Blatters Mund wirkt halt doch etwas (nett gesagt) komisch. Scheint so, alsob er auf die letzten Tage hin seinen Namen irgendwie noch einigermassen reinwaschen will.