Jonas Vingegaard liegt nach 15 von 21 Etappen in Führung. Der 25-jährige Däne hat einen Vorsprung von 2:22 Minuten auf den Slowenen Tadej Pogacar, den Tour-Sieger der Jahre 2020 und 2021.
Wout van Aert führt in der Punktewertung hochüberlegen. Wenn der Belgier das Ziel in Paris erreicht, ist ihm das Maillot Vert nicht zu nehmen. Der Alleskönner Van Aert gewann zwei Etappen und führte vier Tage lang in der Gesamtwertung, Vingegaard gewann ein Teilstück, als Titelverteidiger Pogacar hinauf zum Col de Granon einen Einbruch erlitt und fast drei Minuten einbüsste.
Schnell. Hinauf nach Mende kletterten Vingegaard und Pogacar am Samstag laut «climbing-records.com» so rasant wie Marco Pantani, Miguel Indurain und Bjarne Riis beim Rekord 1995. Die Alpe d'Huez bezwangen die zwei Erstklassierten mit der schnellsten Zeit im Rahmen einer Tour de France seit 2006. Damals war der danach aufgeflogene Floyd Landis schneller.
Das muss kein Hinweis für die Verwendung unerlaubter Mittel sein. Andere Faktoren wie die Etappengestaltung, Wind und Wetter oder das markant weiterentwickelte Material haben ebenso einen Einfluss auf die Leistung wie optimierte Trainingsformen und Ernährungspläne. Fragezeichen tauchen dennoch zwangsläufig auf, dafür hat der Radsport einfach einen zu schlechten Leumund. Das versteht auch Vingegaard, der laut der NZZ vor der Tour sagte: «Es wird immer Zweifel geben, und so sollte es auch sein. Ich hätte als Zuschauer auch Zweifel angesichts von allem, was früher passiert ist.»
Die Equipe des Gesamtführenden, Jumbo-Visma, trat bislang äusserst überzeugend auf. Es hatte das Geschehen fast jederzeit im Griff. Doch vor der letzten Woche erlitt das Team einen Rückschlag: Mit Primoz Roglic und Steven Kruijswijk fielen zwei enorm wertvolle Helfer Vingegaards nach Stürzen verletzt aus. Der Däne, im Vorjahr praktisch aus dem Nichts Zweiter der «Grande Boucle» geworden, wird bei Angriffen Pogacars vermehrt auf sich alleine gestellt sein.
Kein Roglic mehr und kein Kruijswijk – dafür hilft Jumbo-Visma vielleicht ein umstrittenes Nahrungsergänzungsmittel, auf das es setzt: Ketone.
Ein Stoff, den der Körper auf natürliche Weise produziert, wenn ihm mehrere Tage lang Kohlenhydrate vorenthalten werden. Der Körper bildet dann Ketone, die in dieser Situation helfen, aus den Fettreserven zu überleben.
Man geht davon aus, dass künstlich zugeführte Ketone intensive Belastungen länger ermöglichen und die Leistungsfähigkeit dadurch gesteigert werden kann. Ketone, so die Annahme, verstärken die Ausdauer und beschleunigen die Erholung. Trifft das wirklich zu, erhalten Ausdrücke wie «Wundermittel» oder «Zaubertrank» ihre Berechtigung.
Das in flüssiger Form erhältliche Nahrungsergänzungsmittel steht nicht auf der Dopingliste. Allerdings empfahl der Radsport-Weltverband UCI im vergangenen Herbst, auf den Einsatz des Produkts zu verzichten.
Der Grund dafür ist primär, dass mögliche längerfristige Konsequenzen nicht bekannt sind. Die UCI will die Wirkungsweise von Ketonen in einer Studie untersuchen und rät den Fahrern, die Substanz bis zum Abschluss der Untersuchung nicht einzunehmen.
Laut der WADA, der Welt-Anti-Doping-Agentur, erfüllen Ketone nicht die Kriterien, um auf die Dopingliste zu kommen. Dazu müssen zwei von drei Kriterien erfüllt werden: Eine Substanz muss das Potenzial haben, die sportliche Leistung zu steigern bzw. sie stellt ein tatsächliches oder potenzielles Gesundheitsrisiko für die Athleten dar bzw. sie verstösst gegen den Geist des Sports. Je nach Resultat der UCI-Studie wird die WADA neu darüber entscheiden.
Die niederländische Equipe kündigte nach der UCI-Empfehlung an, den Fahrern weiterhin Ketone anzubieten. Sportdirektor Merijn Zeeman verwies auf eigene Studien, wonach im Rahmen einer ausgeklügelten Ernährungsstrategie der Konsum von Ketonen empfohlen werde.
Dessen Wert werde aber ohnehin überschätzt: Grundlage für den Erfolg der Mannschaft seien hartes Training und vernünftige Ernährung. «Es macht nicht einmal ein Prozent aus», sagte Zeeman gegenüber der Zeitung «L'Equipe». Die Debatte über Ketone bezeichnete er gar als «die unsinnigste, die es im Radsport je gegeben hat. Ketone sind fast nichts.» Aber solange sie erlaubt seien, habe das Team das Recht, sie zu testen und zu sehen, ob es einigen Fahrern helfe. Teamchef Richard Plugge behauptete in der Vergangenheit auch schon, man könne Ketone «wie Vitamine nutzen».
Im «Mouvement Pour un Cyclisme Crédible» (MPCC) haben sich jene Profiteams zusammengeschlossen, die sich gemeinsam für einen glaubwürdigen Radsport einsetzen. Die MPCC rät ihren Mitgliedern, darunter sind die Teams Groupama-FDJ (mit dem Schweizer Stefan Küng), EF Education-EasyPost (Stefan Bissegger) oder Bora-Hansgrohe, vom Konsum von Ketonen ab.
Der Chef der niederländischen Anti-Doping-Agentur sprach von einer Grauzone. «Es ist nicht auf der Doping-Verbotsliste, aber wenn Athleten uns fragen, raten wir ihnen von der Benutzung ab», sagte Herman Ram.
Kein Geheimnis macht man bei Quick-Step Alpha Vinyl, der Equipe von Weltmeister Julian Alaphilippe. Es schloss vor der Tour einen Mehrjahresvertrag mit einem Ketone-Hersteller ab, der das Team unterstützt. Auch Lotto-Soudal teilte schon mit, auf Ketone zu setzen. Unklar ist, ob sie beim Team Ineos-Grenadiers noch verwendet werden. Die Briten gelten als erste, die (noch als Team Sky) mit dem Stoff experimentierten.
Vor allem französische Fahrer haben eine klare Meinung. Romain Bardet, Guillaume Martin oder Arnaud Démare setzen sich für ein Verbot von Ketonen ein. Sprinter Démare sprach auch vom «peloton à deux vitesses», dem Feld, das mit zwei unterschiedlichen Geschwindigkeiten unterwegs ist. Der Begriff drückt aus, dass ein Teil gedopt ist und der andere, der saubere Teil, hinterher fährt.
Jumbo-Visma-Sportdirektor Zeeman zeigte sich von der Kritik wenig beeindruckt. «Der Verdacht kommt oft aus Frankreich», sagte er. «Den Franzosen gefällt vielleicht nicht, was ich jetzt sage, aber ich glaube nicht, dass sie mit der gleichen Professionalität arbeiten wie wir. Sie behaupten oft, dass unsere guten Ergebnisse auf Ketone, mechanisches Doping oder was auch immer zurückzuführen sind … aber ich denke, sie suchen nach Ausreden.»
Nach den Alpen stehen die Pyrenäen auf dem Programm. Vor allem am Mittwoch und Donnerstag könnte sich Entscheidendes ereignen. Die 17. Etappe am Mittwoch ist mit 130 Kilometern verhältnismässig kurz, beinhaltet aber inklusive Bergankunft vier schwere Pässe. Tags darauf steht in Hautacam erneut eine Bergankunft auf dem Programm.
Die letzte Gelegenheit für einen Verfolger, dem Leader das Maillot Jaune auszuziehen, bildet das Zeitfahren am Samstag. Es führt tendenziell meist leicht bergab, am Ende der 40,7 Kilometer wartet allerdings eine giftige, eineinhalb Kilometer lange Rampe.