Beim Brexit wurden bisher zwei Szenarien diskutiert: eine «harte» und eine «weiche» Landung. Das erste kann man als Kampfscheidung verstehen, das zweite als einvernehmliche Trennung. Nun aber bringt Gideon Rachman in der «Financial Times» eine dritte Variante ins Spiel: Der Brexit wird zum Zugsunglück.
Wolfgang Ernst, Jusprofessor an den Universitäten Zürich und Cambridge, hat vor dieser Entwicklung schon im Frühjahr gewarnt. Er hat damals eine Verhandlungsdauer von mindestens fünf, aber eher zehn Jahren vorausgesagt. Die Entwicklung gibt im Recht.
Der britische EU-Botschafter Sir Ivan Rogers hat gegenüber der BBC bestätigt, dass sich die Verhandlungen bis Mitte der 20-er Jahren hinziehen – und dann scheitern könnten.
Dabei müssten diese Verhandlungen im Frühjahr 2019 beendet sein. Die britische Premierministerin Theresa May hat nämlich versprochen, im kommenden März die Austrittsverhandlungen in Gang zu setzen und Artikel 50 anzurufen. Ordnungsgemäss müssten sie dann innerhalb von zwei Jahren abgeschlossen sein.
Das wird kaum möglich sein. Zwischen Brüssel und London haben sich in der Zeitspanne von 40 Jahren rund 14'000 Verträge aufgetürmt. Sie alle müssen neu verhandelt werden. «Wir haben die Kapazität dafür nicht», sagt ein hoher britischer Beamter. «Und die EU ist nicht daran interessiert.»
Die Verhandlungen werden nicht nur lang, sie werden auch sehr hässlich werden. Die EU wird darauf drängen, dass die Briten alle ihre Verpflichtungen erfüllen und daher eine Rechnung in der Höhe zwischen 50 und 60 Milliarden Euro nach London schicken.
Das wiederum wird zu einem Aufschrei der EU-Gegner und der sehr aggressiven englischen Boulevard-Presse führen und einen vernünftigen Kompromiss verunmöglichen. «Deshalb ist es sehr gut möglich, dass Grossbritannien ganz einfach die Verhandlungen abbricht», so Rachman. «Dann geht die Angelegenheit vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Es könnten wiederum Jahre vergehen, bis er ein Urteil fällt.»
Ein Zugsunglück-Austritt hätte für die britische Wirtschaft verheerende Folgen. Die bedeutende Autoindustrie beispielsweise würde darunter leiden, dass die Supply Chain unterbrochen und sie mit Zöllen von bis zu zehn Prozent belegt würde. Beides wäre im Zeitalter der «Just in time»-Produktion tödlich.
Die City of London, zusammen mit der Wall Street das grösste Finanzzentrum der Welt, würde die so genannten «passporting rights» verlieren, will heissen: Die Banker könnten nicht mehr wie bis anhin ungehindert ihren Geschäften in der ganzen EU nachgehen. Es wäre daher wahrscheinlich, dass zumindest ein Teil der Banken ihre Sitz von London nach Frankfurt oder Paris verlegen würden.
Inzwischen dämmert es auch den Briten, dass mit dem Spruch «Brexit bedeutet Brexit» nicht getan ist. So berichtet der «Guardian», dass bei den ehrwürdigen Lords im Oberhaus der Unwille über die Regierung wächst. Sie hätte ihre Verhandlungsposition überschätzt, «und es sei schlicht naiv gewesen, einen ‹free lunch› in den Handelsverhandlungen zu erwarten», muffelten die Lords.
Das sollte man auch in der SVP und vor allem in der AUNS allmählich zur Kenntnis nehmen. Die AUNS hat angekündigt, eine Initiative zur Kündigung der Personenfreizügigkeit zu lancieren. Automatisch wären damit die bilateralen Verträge I mit der EU hinfällig. Diese unangenehme Tatsache will die AUNS nicht zur Kenntnis nehmen.
Vielleicht sollte AUNS-Präsident Lukas Reimann einmal mit dem ehemaligen britischen Premierminister David Cameron telefonieren. Auch er war felsenfest davon überzeugt, mit Angela Merkel einen neuen Deal aushandeln und so den Brexit vermeiden zu können. Das ist dumm gelaufen.