Stell dir vor, du sitzt morgens am Schreibtisch, nimmst einen Schluck aus dem Kaffeebecher und schaltest deinen Laptop ein – doch statt deiner Katze auf dem Hintergrundbild begrüsst dich Adolf Hitler mit ausgestrecktem Arm. Darunter findest du eine Nachricht: «Hier ist die Hitler-Erpresser-Software. Ihre Dateien wurden verschlüsselt.» Der virtuelle Adolf bietet dir ein Geschäft an: Gegen eine Lösegeldzahlung werden die Dateien wieder entschlüsselt und der Spuk ist vorbei. Eine gruselige Vorstellung.
Der Hitler-Trojaner ist einer der skurrilsten und zugleich geschmacklosesten Erpressungstrojaner, die derzeit zu Hunderten im Umlauf sind. Dabei zählt er noch zu den harmloseren Vertretern. Weitaus schlimmere Trojaner suchen Privat- und Geschäfts-Computer weltweit heim. Auch die Schweiz gerät zunehmend ins Visier. Die Bedrohungslage sei hoch, sagen die Sicherheits-Experten der IT-Stiftung Switch.
Zuerst stellt sich die Frage, womit wir es hier eigentlich zu tun haben. Die sogenannten Erpressungstrojaner (englisch: Ransomware) gelangen auf herkömmlichen Wegen in den Computer, etwa im Anhang einer Email. Wird dieser geöffnet, steht dem Trojaner der Weg ins eigene System offen. Dort nistet er sich ein. Unbemerkt hockt er da und fängt nicht etwa an, irgendwas kaputtzumachen. Die Zeiten, in denen Hacker plumpen Cyber-Vandalismus betrieben, sind vorbei. Heute haben sie ganz anderes im Sinn.
Sitzt die Erpressersoftware erstmal im Computer des Opfers, beginnt sie, Dateien zu verschlüsseln. Nicht alle auf einmal, sondern peu à peu. Still und leise, im Hintergrund. So kriegt das Opfer gar nichts davon mit.
Wenn der Trojaner sein Werk vollendet hat, schickt der Hacker eine Nachricht. Das Opfer soll einen Geldbetrag überweisen, dann bekommt es – wenn es Glück hat – die Daten wieder zurück. Meist werden Bitcoins gefordert. Die Internetwährung hinterlässt keine Spuren, die zum Erpresser führen könnten. «Die grosse Masse machen durchschnittliche Haushalte aus, wobei aktuell 1-2 Bitcoins (600-1200 Franken) verlangt werden», teilt Switch mit. Jedoch: «In Einzelfällen werden 5-6-stellige Beträge verlangt.»
Der Hacker von heute schickt also keine virtuellen Schlägertrupps mehr los, die auf der Festplatte alles kurz und klein hauen. Stattdessen wurde ein Geschäftsmodell entwickelt. Das ist das Gefährliche daran — und der Grund für die Renaissance der Erpressersoftware. Letztere ist in vollem Gange.
Die Kantonspolizei Aargau etwa teilt auf Anfrage mit, «dass in jüngster Zeit vermehrt solche sogenannte Ransomware im Umlauf ist». Betroffen seien «einerseits Privatpersonen, die im wahllosen Massenversand verbreitete E-Mails erhalten».
Andererseits seien im Kanton Fälle bekannt, «bei denen Unternehmungen mit Ransomware gezielt angegriffen und teilweise auch geschädigt wurden». Aus Solothurn heisst es: «Aktuell stellt die Kantonspolizei gegenüber den Vorjahren eine Zunahme der Gefahren für private Internetnutzer und KMU durch Verschlüsselungstrojaner fest.»
Über genaue Zahlen verfügen die Behörden nicht. Die zuständige Melde- und Analysestelle Informationssicherung (Melani) erklärt: «Da in der Schweiz keine Meldepflicht besteht, verfügt Melani über keine Zahlen bezüglich Erpressungsversuchen. Wir gehen jedoch davon aus, dass die Anzahl der Opfer stark zugenommen hat und die Tendenz weiter steigen wird.»
Wie lukrativ das Geschäft für die Cyberkriminellen ist, zeigt eine Zusammenstellung des US-Softwareunternehmens Landesk. Demnach wurde Hackern in diesem Jahr bereits mehr als 200 Millionen Dollar Lösegeld bezahlt. Das perfide: Sie beschränken sich nicht auf Firmen und Privatnutzer. Angriffe werden auch auf Einrichtungen wie Krankenhäuser verübt.
Da Patientendaten hochbrisante Ware ist, fordern Kriminelle wesentlich mehr Geld, wie Anfang Jahr bei mehreren Krankenhäusern im deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen geschehen. Den angefragten Polizeistellen der Kantone seien derartige Fälle in der Schweiz nicht bekannt, liessen sie wissen.
Fragt man bei den IT-Experten von Switch nach, ob es Fälle gab, in denen hiesige Behörden oder Krankenhäuser angegriffen wurden, lautet die Antwort: «Es sind uns Fälle in verschiedenen Sektoren bekannt.» Und bei MELANI heisst es geheimniskrämerisch: Man erteile keine Auskünfte «ob und falls ja, welche Einrichtungen oder Firmen Opfer einer Cyber-Attacke geworden sind».
Während in der Schweiz keine offiziellen Zahlen existieren, zeigt ein Blick nach Deutschland die Dimension: Laut dem dortigen Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) gab im Zuge einer Umfrage ein Drittel der Firmen an, in den letzten sechs Monaten von Ransomware betroffen gewesen zu sein. Die Auswirkungen reichten von einigen einzelnen befallenen Arbeitsplatzrechnern bis zum Verlust von Firmendaten. In jedem fünften betroffenen Unternehmen kam es zu einem erheblichen Ausfall von Teilen der IT-Infrastruktur. Behördenchef Arne Schönbohm erklärt dazu: «Die Ergebnisse der BSI-Umfrage machen deutlich, wie verwundbar viele Unternehmen in Deutschland für Cyber-Angriffe sind.» Es gibt keinen Grund anzunehmen, warum das hierzulande anders sein sollte.
Herr Bossardt, wie gross ist aktuell die Bedrohung durch Internetkriminalität für Firmen?
Matthias Bossardt: Cyberkriminalität nimmt insgesamt zu. In unserer letzten Studie gaben 50 Prozent der befragten Firmen an, betroffen zu sein. Bei 44 Prozent kam es wegen Cyberattacken zu Geschäftsausfällen.
Welche Rolle spielen Erpressungstrojaner dabei?
Es gibt einen starken Anstieg dieser sogenannten Ransomware. Waren vor zwei bis drei Jahren vor allem private Nutzer betroffen, geraten heute zunehmend Firmen ins Visier. Besonders kleine und mittelgrosse Unternehmen sind für die Kriminellen spannende Ziele.
Warum gerade die KMU?
KMU betrachten sich oftmals nicht als potenzielles Opfer und sind deshalb leichter anzugreifen.
Was können kleinere Unternehmen tun, um sich zu schützen?
Sie sollten ihre Mitarbeiter sensibilisieren und zu einem kritischen Verhalten im Umgang mit E-Mails und dem Umgang mit dem Internet im Allgemeinen anhalten. Ferner sollten sie ihre Systeme auf dem neusten Stand halten – übrigens auch die mobilen Systeme, denn vermehrt werden auch Smartphones angegriffen. Ebenfalls müssen sie sicherstellen, dass aktuelle Back-ups erstellt werden. Und sie sollten genau wissen, welche kritischen Daten sie besonders gut schützen müssen. Es lohnt sich auch, regelmässig die Empfehlungen von der Melde- und Analysestelle Informationssicherung (Melani) zu konsultieren.
Ist die Schweiz gewappnet gegen die aktuellen Cyberattacken?
Wir sind nicht besonders gut gewappnet. Andere Länder – etwa England und die USA – sind aktiver, insbesondere hinsichtlich der Zusammenarbeit zwischen der Verwaltung und der Privatwirtschaft.
Bräuchte es eine Meldepflicht für Erpressungsversuche im Internet?
Was man nicht misst, kann man nicht managen. Wenn wir das Cyberrisiko bekämpfen wollen, müssen wir dieses besser verstehen. Ohne einer überbordenden Bürokratie Vorschub leisten zu wollen, erscheint die Einrichtung einer zentralen Meldestelle für Cyberangriffe prüfenswert.
Im Kommen ist das Internet der Dinge, also die Vernetzung von Geräten und Maschinen. Entstehen hier neue Angriffspunkte für Erpressungsversuche? Etwa dass der Kühlschrank nicht mehr aufgeht und das Auto nur noch gegen Lösegeld startet?
Die Sicherheit im Internet der Dinge ist ein ganz grosses Thema, welches uns in nächster Zeit noch stark beschäftigen wird – und auch schon heute tut. Um den Kühlschrank mache ich mir dabei am wenigsten Sorgen. Internet der Dinge bedeutet ja auch: Steuerung von Industrieanlagen, Gebäuden, Fahrzeugen oder auch Kraftwerken. Angreifer können Fahrstühle lahmlegen, Zutritt zu Gebäuden ermöglichen oder verhindern, Hochöfen zerstören oder die Sicherheit von Fahrzeugen gefährden. Oder im eigenen Zuhause die Überwachungskamera auch mal gegen Sie verwenden.
Es bleibt also nicht im virtuellen Raum.
Die möglichen Schäden sind sehr real: Wird zum Beispiel ein vernetzter Herzschrittmacher, ein Transportmittel oder eine Industrieanlage gehackt, kann es sogar lebensbedrohlich werden.
Wie kann so etwas künftig verhindert werden?
Die Hersteller von vernetzten Produkten für das Internet der Dinge müssen das Thema Sicherheit unbedingt in ihren Entwicklungsprozess miteinbeziehen. Tun sie das nicht, können ihre Produkte grossen Schaden anrichten, bis hin zur Gefährdung von Menschenleben. (aargauerzeitung.ch)