Die Koreaner beherrschen sportlich zwei Dinge: Bogenschiessen und Short Track. 23 Goldmedaillen hamsterte das Land in der olympischen Geschichte mit Pfeil und Bogen, 22 in der Kamikaze-Version des Eisschnelllaufs. Dabei ist Short Track erst seit 1992 offizieller Teil der Winterspiele. Genau 50 Medaillensätze gab es bis Dienstagabend zu gewinnen, die Ausbeute des Olympia-Gastgebers liest sich so noch beeindruckender.
Höchste Zeit also, um den Einheimischen nicht immer nur die Exotendisziplin Ski-Abfahrt zu erklären, sondern selber einmal einen Blick ins Zentrum der olympischen Eruption von Pyeongchang zu werfen. Die «Gangneung Ice Arena» ist für zwei Wochen die heilige Stätte des koreanischen Sports. Hier sind Siege so sicher wie das Amen in der Kirche.
Zwei Dinge fallen in der neu gebauten Eishalle mit 12'000 Sitzplätzen auf. Das Publikum ist deutlich asiatischer als in der Bergregion der Spiele. Und im Mediencenter trifft man auf mehr koreanische Journalisten als in allen Ski-Disziplinen zusammen. Die Besucher lassen sich das Spektakel einiges kosten. Umgerechnet 150 Franken zahlen sie für die billigsten Plätze, sagenhafte 550 Franken für die beste Sicht. Kein Ticket eines anderen Wettkampfs ist annähernd so teuer. Zum Eishockey-Final der Männer erhält man für 150 Franken Zutritt, zur Abfahrt der Männer gar für 80 Franken. Nur wollen dort kaum Einheimische hin.
Die Südkoreaner sind höchst zurückhaltende und anständige Menschen. Die meditative Ruhe des Bogenschiessens passt da wunderbar zum Naturell. Aber Short Track? Diese wilde Meute von Adrenalin-gesteuerten Muskelmännern und -frauen, die mit Tempo 60 irre Kurven auf die genau 111,12 Meter lange Rundbahn zaubern. Hier lässt der Koreaner offensichtlich die Sau raus. Vor den einzelnen Rennen heizen verschiedene Star-DJs an übertrieben grossen Mischpulten mit hämmernden Techno-Beats die Stimmung an. Eine Girlie-Group in Schulmädchen-Uniform singt und tanzt die Zuschauer in Ekstase. Eine erste Welle geht durchs Rund.
Es ist ein spezieller Tag für die Südkoreaner. In einer allerletzten Disziplin fehlt ihnen olympisches Gold. Über 500 m der Frauen will die Weltnummer 1, Choi Min Jeong, dies heute ändern. Entsprechend erwartungsvoll blickt das Publikum dem Höhepunkt des Abends entgegen.
Vorerst jedoch stehen andere im Vordergrund. Auch die Jury, die Schiedsrichter und der Video-Judge werden von den Short Track-Fans mit warmem Applaus begrüsst. Sie sind nun mal elementarer Teil der Show. Kaum ein Rennen endet nicht mit einer Videokonsultation und einer darauffolgenden Disqualifikation.
Legendär der Olympiasieg des australischen Aussenseiters Steven Bradbury 2002 in Salt Lake City. Den Viertelfinal überstand er nur wegen der Strafe gegen einen Konkurrenten. Im Halbfinal war Bradbury Letzter und konnte aus sicherem Abstand zuschauen, wie sich die drei vor ihm laufenden Athleten gegenseitig abschossen. Und im Final, zu welchem der damalige Star der Szene, der Amerikaner Apolo Anton Ohno als haushoher Favorit antrat, wiederholte sich dieses Szenario in der allerletzten Kurve des Rennens. Australien feierte die allererste Goldmedaille bei Winterspielen.
Auch an diesem Abend gehören Stürze zum Spektakel. In den ersten Vorläufen fehlen die eigenen Stars noch. Entsprechend nimmt man das Publikum akustisch vor allem bei Bruchlandungen und spektakulären Überholmanövern wahr. Dies ändert sich beim ersten Auftritt von Short-Track-Göttin Min Jeong im Viertelfinal. Es wird laut in der Halle. Ohrenbetäubend laut. Vor dem Start ertönen Fangesänge, welche die Muttenzerkurve des FC Basel locker in den Schatten stellen. Selbst die nordkoreanischen Cheerleader haben da nichts mehr zu bestellen. Gänsehaut-Feeling pur. Im Halbfinal läuft die Favoritin der Herzen olympischen Rekord. Als Choi Min Jeong im Rennen erstmals die Führung übernimmt, durchbricht der Jubel die Schallgrenze.
Sämtliche Medaillen bei Winterspielen hat Südkorea innerhalb von Eishallen gewonnen, seit 1992 dank dem Short Track bei jeder Austragung. Im Vergleich ist die Schweiz ein wahres Short-Track-Entwicklungsland. Obwohl bei uns im Verhältnis zur Bevölkerung bedeutend mehr Eishallen stehen als im Land des Olympia-Gastgebers, hat sich nie eine vielversprechende Szene gebildet. Klubs gibt es in Lausanne, Zürich, Schaffhausen und Davos. Ein halbes Dutzend Athleten versuchte sich im Weltcup – mit überschaubarem Erfolg. Derzeit ruht die Hoffnung auf dem 16-jährigen Westschweizer Thibault Métraux, welcher in der Jahresbestenliste über 500 m auf Position 504 von weltweit 1407 Läufern liegt. Ein Schweizer schafft es dennoch in den Olympia-Final von Pyeongchang: Der 72-jährige Basler Roland Maillard amtet als Technischer Delegierter.
Er sieht zusammen mit den 12'000 Fans in einer erwartungsschwangeren Atmosphäre, wie sich Min Jeong und die Italienerin Arianna Fontana ein Foto-Finish liefern. Gespannt blicken die Zuschauer auf das Verdikt des Video-Richters. Dann der Schock: Min Jeong wird disqualifiziert.
E per non smettere di sognare...l'Oro di Arianna Fontana fa impazzire tutti, anche gli Svedesi! 😂❄🇮🇹
— Eurosport IT (@Eurosport_IT) 14. Februar 2018
(Un consiglio: su il volume! 🗣)@AryFonta @EurosportSE #PyeongChang2018 #HomeOfTheOlympics #ShortTrack pic.twitter.com/7pxewl2kuW
Auf einmal ist es ruhig wie in einer Kirche. Die Athletin sagt später: «Die koreanischen Fans tun mir leid.» Da ist sie auf einmal wieder, diese typische Demut der Einheimischen. Amen!