Wir haben alle einen Silvesterbrauch. Bei den meisten hat er mit alkoholischen Getränken zu tun. Und mit Jammern. Dieses Jahr ist das Jammern schwierig. Weil 2017 so ein unglaublich schweres Jahr war. Da weiss man nicht, wo mit dem Jammern anfangen. Weil das alles so schwierig war mit #metoo, der political correctness, den Influencern, Trump, ...
Entlang der 11 wichtigsten Geschehnisse in der hiesigen Populärkultur lassen wir 2017 noch einmal Revue passieren. Damit du für ein paar Stunden in der Illusion verweilen kannst, dass 2018 viel entspannter wird – und damit du (noch) mehr Jammer-Argumente hast.
Was ist passiert?
«Gott ist tot», schrieb Friedrich Nietzsche 1882. Und obwohl sein nihilistischer Aphorismus damals auf fundamentales Empören sondergleichen stiess, hat die Welt irgendwie akzeptiert, dass der bärtige Mann, der im Himmelszelt hausen soll, sein restriktives und allsehendes Auge mehr und mehr geschlossen hat.
135 Jahre lange ging das so; so lange hielt es die westliche Menschheit ohne Gottheit aus – bis im Jahre 2017 Beyoncé (sie braucht keinen Nachnamen) mit einem Bild ihres Babybauches der Menschheit ein im höchsten Masse anbetungswürdiges Idol zurückgab.
Wie hat die Welt darauf reagiert?
Wie gesagt: Die Welt hat sie angebetet. In der zeitgenössischsten Form, die man sich vorstellen kann: mit Instagram-Likes. 11,2 Millionen an der Zahl. Und dieser Akt des kollektiven Lobpreisens war noch niemals zuvor derart immens wie bei diesem Bild. Noch nie seit der Erfindung des digitalisierten Narzissmus-Bewerkstelligungswerkzeugs Herzens.
Wieso ist das eine grosse Sache?
Beyoncé (auch Queen B, Bey, Yoncé, oder Queen Bae) lässt die Welt wissen, dass sie sich reproduziert. Die Form, wie sie dies tut, ist kitschig, altbacken und subversiv zugleich. Was alles in allem so sehr dem Zeitgeist des Jahres 2017 entspricht … es geht gar nicht mehr. Wirklich nicht.
Das Bild entspricht einem uralten, extrem patriarchalen und deshalb problematischen Frauenbild: Es zeigt die Frau als die Fruchtbare, die Heilige, die traute Wiege der Menschheit. Und obwohl sie mit dem Schleier und ihrem frontalen Blick ganz klar eine Anspielung auf die christliche Madonna macht, pervertieren die heidnische Blumen-Deko, ihre Nacktheit – die schön, aber nicht sexy anmutet – zusammen mit ihrer nicht-weissen Hautfarbe dieses uralte Bild von Weiblichkeit.
Die amerikanische Philosophin Judith Butler analysiert in einem Interview mit watson Beyoncés Bild folgendermassen:
Klar, all diese versteckten Anspielungen und philosophischen Deutungsversuche machen Queen Bey noch nicht zu einer Gottheit, wie wir das aus griechischen Sagen oder Religionslehren kennen. Aber darüber können wir schliesslich ja auch nur froh sein.
Was ist passiert?
Wenn Beyoncé 2017 zur Gottheit wurde, dann wurde das Meme mit dem Typen und den zwei Girls zum illustrierten, alles-erklärenden Bibelspruch der diesjährigen Popkultur.
Bei dem ursprünglichen Bild handelt es sich um ein Agenturfoto, das vom spanischen Stockfotografen Antonio Guillem unter dem Titel «Disloyal Man Walking With His Girlfriend and Looking Amazed at Another Seductive Girl» veröffentlicht wurde.
Wie das Bild dann erstmals zum Meme wurde, ist ein Faktum, das, wie so vieles im Internet, nicht wirklich geklärt werden kann. Und im Grunde ist es auch ein Faktum, das in Zeiten der unendlichen Reproduktion digitaler Inhalte bedeutungslos wird.
Wie hat die Welt darauf reagiert?
Internet-Scherze sind, wie viele andere Arten von Lustigkeit, vor allem dann von Wert, wenn sie sich auf etwas bereits Vorhandenes beziehen. Insiderische Anspielungen, sei es auf nerdiges Informatik-Gedusle, alltägliche Gefühlslagen oder politische Underdog-Haltungen, wurden zur Essenz zeitgenössischen Humors.
Und weil Anspielungen nur funktionieren, wenn man etwas schon kennt, einem ein Bild vertraut ist und wenn man die Kernaussage eines Inhalts schon innert Mikrosekunden begreift, lebt der Internethumor von 2017 von Reproduktionen.
Und reproduziert wurde dieses Bild tausendfach …
— UlbrichtUltra (@UlbrichtUltra) 19. August 2017
— Tyler Reinhard (@abolishme) 23. August 2017
— alex (@shitshowdotinfo) 23. August 2017
Wieso ist das eine grosse Sache?
Memes gab es schon vor 2017; das ist klar. Doch das «Disloyal-Dude»-Meme ist ein Sinnbild für die letzten 365 Tage. Es zeigt den Zwiespalt zwischen sollen und wollen – und genau der ist das wohl grösste gesellschaftspolitische Thema dieses Jahres.
Darf ich das noch sagen? War doch bloss ein Kompliment! Ich bin ja kein Nazi, aber …
Die grösste Ironie an der Geschichte um dieses Meme ist ja, dass das Ursprungsbild die stereotypische Szenerie von Alltagssexismus zeigt, in der Männer als penisgesteuerte Lustmölche dastehen, während die Frauen die Rolle der argusäugigen Hysterikerin einnehmen.
Und genau diese zwei Stigmas standen 2017 mehr denn je zur Debatte gesellschaftlichen Fortschritts – sei es aus feministischer oder konservativer Perspektive. In den Memes über den «Disloyal Dude» wurde dieses sonst so omnipräsente Thema irgendwie ignoriert. Ja, wenn nicht gar unterwandert. Auf dem Rücken seines doch sehr sexistischen Inhalts wurden innere Konflikte über Prokrastination, Ernährung oder Molekularchemie austragen.
Poltische Korrektheit und rassistische Schenkelklopfer – sollen und wollen – 2017 war sich gegenüber oft selbst nicht ganz loyal.
Was ist passiert?
Harvey Weinstein, der ehemals einflussreichste Filmproduzent Hollywoods wurde im Oktober dieses Jahres von dutzenden Frauen öffentlich der sexuellen Belästigung, Nötigung und der Vergewaltigung bezichtigt. Nach den Publikationen der «New York Times» und dem «New Yorker» schlossen sich viele weitere Frauen den Vorwürfen an und berichteten von ähnlichen Erlebnissen mit Weinstein. Dieser stritt ab, «nicht einvernehmlichen Sex gehabt» zu haben.
Im Zuge dessen verlor er seinen Job, wurde von der Film Academy (das sind die, welche die Oscars verleihen) ausgeschlossen. Des Weiteren reichte seine Frau die Scheidung ein und auch Politiker, die Weinstein einst unterstützten, distanzierten sich öffentlich vom geächteten Filmmogul.
Vier Beweise, dass Weinsteins Verhalten kein Geheimnis war!
Wie hat die Welt darauf reagiert?
Laut, entsetzt und mit unzähligen, längst fälligen Nachbeben. Der Weinstein-Skandal kam einer öffentlichen Kastration gleich. Und diese war nicht auf das Beschneiden männlicher Weichteile gerichtet, sondern auf sexuelle Machtverhältnisse, über die zu sprechen sich niemand so richtig traute.
Nach Weinstein fiel Kevin Spacey, der US-amerikanische Präsident von Netflix.
Und spätestens nach diesem Fall hat jedes Zeitungsprodukt westlich von Moskau mindestens einmal über die Hashtagkampagne #metoo berichtet.
Initiiert wurde diese von der Schauspielerin Alyssa Milano (das ist die von «Charmed – Zauberhafte Hexen», bisschen ironisch, ich weiss). Mitte Oktober schrieb sie auf Twitter:
If you’ve been sexually harassed or assaulted write ‘me too’ as a reply to this tweet. pic.twitter.com/k2oeCiUf9n
— Alyssa Milano (@Alyssa_Milano) 15. Oktober 2017
Wieso ist das eine grosse Sache?
Über institutionellen Sexismus wird immer wieder gesprochen. Quasi etappenweise findet die Debatte um die unsagbarste Ungleichheit zwischen Menschen statt, die sich nahe stehen. Bei der Etappe, die dieses Jahr in Form des besagten Hashtags über die Bühne ging, wurde die Sexismus-Debatte aber auf eine neue Ebene gehievt. Indem sich Millionen von gemetooten Menschen über jegliche Kanäle Gehör verschafft hatten, war eine ignorante Haltung gegenüber der Thematik fast unmöglich.
Jede und vor allem jedeR sah sich gezwungen, die eigene Position hinsichtlich all dieser nackten Wahrheiten zu reflektieren. Erstmals wurde im grossen Stil über männliche Privilegien geredet, wie damit im Alltag umgegangen werden soll. Wo man sie einsetzen und wo sie begraben werden sollen.
Natürlich löste diese Omnipräsenz und der damit verbundene Diskussionsimperativ auch ganz, ganz viele negative Gefühle aus. Gefühle, die die Welt und ihre Menschen nicht zwingend gleicher machen – wie es die #metoo-Kampagne eigentlich vorhatte – sondern sie noch viel mehr in zwei Lager aufteilt, als dass sie es sonst schon ist.
Was ist passiert?
Bei all dem #Aufschrei um #metoo könnte man meinen, dass sich dieser Kampf nun auch auf den Dancefloors des Mainstreams in zwei Lagern manifestiert. Doch das ist nicht wirklich der Fall. Im Gegenteil, denn ...
Wie hat die Welt darauf reagiert?
... wenn «Shape of you» von Ed Sheeran oder «Despacito» aus den Boomboxen irgendeiner Gruppe junger Menschen mit Wegwerfgrill und aufblasbarem Einhorn dröhnte, wackelte jede Hüfte im Umkreis von 40 Metern ungehemmt (vielleicht nach dem 7. Mal etwas genervt) taktvoll mit. Dass die Songtexte beider Lieder ausschliesslich von männlichen Phantasien zweier aneinanderreibenden Körper handeln, war jedem #metoo-Verfechter schnurzegal. Sie tanzten, pfiffen und summten alle mit.
Wieso ist das eine grosse Sache?
Ist es nicht. Oder sollte es zumindest nicht sein. 😫
Was ist passiert?
Zu Beginn dieses Jahres wurde Meryl Streep bei den Golden Globes für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Sie nutzte ihren Bühnenmoment nicht für eine Dankesrede, sondern um den frisch gewählten US-amerikanischen Präsidenten herunterzuputzen:
Wie hat die Welt darauf reagiert?
Streep wurde für ihre Rede gefeiert. Die sozialen Medien waren voll von «Thank you, Meryl, for speaking out loud what we all think»-Beiträgen. Und dass Trump mit folgendem Tweet reagierte, war indes gefundenes Fressen für all die frustrierten Seelen, die auszuhalten haben, dass dieser Mann nun eines der mächtigsten Ämter der Welt bekleidet.
Meryl Streep, one of the most over-rated actresses in Hollywood, doesn't know me but attacked last night at the Golden Globes. She is a.....
— Donald J. Trump (@realDonaldTrump) 9. Januar 2017
Wieso ist das eine grosse Sache?
Streeps Rede und die Reaktionen darauf stehen sinnbildlich für die Schwebe, in der sich Millionen Menschen im ersten Amtsjahr Trumps befunden haben. Man kann den Führungsstil, das Verhalten, die Haltungen, die der amtierende POTUS an den Tag legt, zwar kritisieren – dort hört es aber auch schon wieder auf. Denn das Höchste, das bei einer Trump-Kritik zu erwarten ist, bleibt nach wie vor ein echauffierter Tweet.
An seiner Macht rütteln kann man erst in drei Jahren wieder. Die Wahlen 2020 sind nun mal das absehbarste Moment, das Trump nicht als Machthaber, sondern nur als Donald bestreiten kann.
Was ist passiert?
Knapp zwei Wochen nach Meryl Streeps Golden-Globe-Rede wird Donald Trump in Washington D.C. vereidigt. Er schliesst seine Rede mit den imperialistisch deutbaren Worten «America First!» ab.
Wie hat die Welt darauf reagiert?
Trump wiederholte die Worte mehrmals vor seinem (mageren) Publikum und winkte schullehrerhaft mit dem Zeigefinger – und wirkte, nun ja, ein bisschen faschoid. Weswegen ihn anschliessend Comedians aus aller Welt aufzogen. In Fake-Werbespots promoteten sie auf nationalistische Art und Weise ihr Land, während sie am Ende des Videos jeweils fragten: «Wenn Amerika an erster Stelle steht, können wir dann wenigstens die Nummer zwei sein?»
Wieso ist das eine grosse Sache?
Auch hier zeigt sich wieder ein sinnbildliches Moment transatlantischer Gesellschaftspolitik. Trump zu thematisieren wurde irgendeinmal im Laufe von 2017 nur noch humoristisch möglich. Die kritische Auseinandersetzung ermüdete. In dem Sinne auf ein weiteres Jahr voller Covfefe!
Was ist passiert?
Was wäre ein Jahr im post-industriellen Zeitalter ohne ein industriell hergestelltes Trend-Gadget, von dem niemand so genau weiss, woher es kommt, wozu es gut ist und wieso es alle kaufen?
2017 übernahm diese Pflichtrolle der Fidget Spinner – und zwar auf äusserst kreative Art und Weise. Der Plastikwirbel, dessen Name schon in der leisen Kopfstimme tönt, als würde sie der Moderator von Tele-Shopping in die Kamera grölen, soll das Wundermittel für alle ADHS-Kinder dieser Welt darstellen. Fidget ist nämlich das englische Wort für Zappelphilipp. Und weil's seit dem Grosswerden der Pharmaindustrie und der Erfindung leistungsorientierter Schulbildung ganz viele von diesen Zappelphilippen gibt, wurde der Fidget Spinner 2017 zu einem der meistverkauften Medizinalgütern Trash-Gadgets.
Wie hat die Welt darauf regiert?
Zuerst gab's ihn nur auf Facebook, dann hatten ihn kleine Krämerläden, dann war er ausverkauft, dann hatten ihn alle Kiosks, dann wurde er auf den Schulhöfen diverser Schweizer Schulen verboten und dann wurde er wieder uncool.
Warum ist das eine grosse Sache?
Wissen wir auch nicht.
Was ist passiert?
Rihanna ist ja eigentlich auch so eine Person, die keinen Nachnamen braucht. Trotzdem hat sie einen. Er lautet Fenty. Und so heisst denn auch die Make-Up-Linie, die sie im vergangenen Jahr auf den Mark gebracht hat.
Okay, ein Popsternchen, das jetzt noch Kosmetika verticken will – tönt nicht wirklich nach etwas Bahnbrechendem! Doch in Rih Rihs Fall ist es das in der Tat. Fenty-Beauty kommt von Beginn an mit 40 verschiedenen Hauttönen heraus und richtet sich explizit auch an nicht-weisse Frauen, die – so Rihanna selbst – oft das Problem haben, keine Schminke in der passenden Färbung zu finden.
Wie hat die Welt darauf reagiert?
Alle Schminkfanatiker auf Youtube sind völlig ausgetickt. «OMG, it's blending in so well!», «It's a dream!», «What have I been doing with my face without this?!», «Yaaas, thank you Rhi Rhi queeeen!» waren fortan die Titel aller Make-Up-Tutorials in den sozialen Medien.
Und die Kosmetik-Industrie war indes ziemlich sauer. Sie hätten ja auch schon Produkte für dunkle Hauttöne entwickelt, die liessen sich einfach nicht so gut verkaufen. Rihanna sei überhaupt nicht die erste, die sowas tut. Der Hype sei nicht gerechtfertigt. Haben sie gesagt.
Warum ist das eine grosse Sache?
Rihannas Fenty Beauty ist aus zwei Gründen eine grosse Sache. Oder besser gesagt wegen zwei Fragen …
1. Wie rassistisch ist eine Gesellschaft, in der es sich nicht lohnt, Make-Up für schwarze Frauen herzustellen?
2. Wie rassistisch ist eine Gesellschaft, in der es sich lohnt, in der es der absolute Hit ist, Make-Up speziell für schwarze Frauen herzustellen?
Produkte mit dem Label «Inclusivity» zu vermarkten und permanent herunterzubeten, dass dieses Verkaufsgut alle Menschen mitmeint, ist der neuste Schrei spätkapitalistischer Vermarktungsstrategien. Klar ist es schön, wenn nicht-weisse Menschen ein besseres Angebot an Kosmetika zu Verfügung haben. Aber heisst «alle» in diesem Fall nicht lediglich «alle, die es sich leisten können»?
Was ist passiert?
Kendall Jenner aus dem Hause Kardashian (ja, das sind die, die dafür bezahlt werden, dass sie existieren) posiert für eine Pepsi-Werbung. Die Szenerie zeigt ganz viele junge, dünne, schöne Menschen, die sich in einem Demonstrationsumzug für eine bessere Welt einsetzen. Kendall sieht das, während sie gerade mit einem Fotoshooting beschäftigt ist und findet das so eine tolle Sache, dass sie prompt ihren Job an den Nagel hängt und mit den Demonstranten mitmarschiert.
Bewaffnet mit einer Pepsi-Dose verbreitet sie gute Laune und schenkt sogar noch einem Polizisten, der mit grimmiger Miene das Geschehen zu kontrollieren versucht, eines dieser muntermachenden Süssgetränke. Die Message: Es braucht nur ein paar Liter Pepsi, um diese böse Welt zu vereinen. Unity, Equality, Progress! Buhuuu!
Wie hat die Welt darauf reagiert?
So …
Warum ist das so eine grosse Sache?
Im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung und des Women March wurden Proteste zu einer grossen Sache. Millionen Menschen fanden nach der Erstarkung konservativer Haltungen, die frauenverachtende und fremdenfeindliche Gesellschaftsmodelle vertreten, wieder auf die Strasse. Pepsi verwendet dieses politische Engagement von Menschen, die sich nach einer faireren Gesellschaft sehnen, und inszeniert seinen second-class Softdrink als Heilmittel gegen grosse gesellschaftspolitische Probleme. Zuckerkonsum gegen Polizeigewalt? Netter Versuch. Rihanna hat's besser getroffen.
Was ist passiert?
«Rupaul's Drag Race» – das ist das amerikanische GNTM mit Dragqueens – ist seit 2017 auf Netflix zu sehen. Loréal und Maybelline haben schwule Typen angestellt, die ihr Make-Up auf Youtube vermarkten. Einhörner zieren jegliche Art von Verbrauchsgütern – von der Teetasse bis zum Gummireifen – und Glitzerkleidung ist das neuste Fashionstatement. Beim Bachelor auf «3plus» machte eine Transfrau mit und «SRF» hat in der Sendung «Kreuz&Queer» queere Jugendliche porträtiert.
Das Wort queer kommt manch einem vor, als wäre es über Nacht in einem Frachtschiff in die hiesige Kultur importiert worden wie die Kartoffel im 16. Jahrhundert.
2017 ist definitiv das Siegesjahr dieses Wortes; es hat sich in den letzten 365 Tagen am zentralsten Ort der abendländischen Kultur etabliert: im Warengestell.
Wie hat die Welt darauf reagiert?
Die meisten haben es gekauft; sich davon unterhalten lassen. Einige haben in Kommentarspalten herumgetrollt – und es immer noch pervers genannt.
Wieso ist das eine grosse Sache?
Weil es anscheinend ganz viele Leute geniessen, schillernden Dragqueens beim «Rumzicken» zuzugucken und es in der Schweiz aber trotzdem keine «Ehe für alle gibt», Schweizer Transmenschen sechsmal mehr von Arbeitslosigkeit betroffen sind als der Rest der Bevölkerung und queere Jugendliche in der Schweiz eine fünfmal höhere Suizidrate haben.
Was ist passiert?
Es gehört zu den erfolgreichsten Netflix-Dramen des Jahres: Das nervig narzisstische Gejammere von Hannah Baker, der Protagonistin von «13 Reasons Why». Zu Deutsch «Tote Mädchen lügen nicht».
Produziert wurde die Serie von einem anderen nervigen, narzisstischen Mädchen der zeitgenössischen Popkultur – von Selena Gomez. Diese hatte sich die Filmrechte an der Romanvorlage schon vor Jahren gekauft, als sie fünfzehn war. Nun fühlte sie sich aber schon zu alt für die Rolle eines geplagten Teenie-Mädchens. Weswegen sie die Rolle der verzweifelten Schülerin an Katherine Langford abgab, die sich nun an deren Stelle selber umbringt, doch davor noch all ihr Leid auf sechseinhalb Tonkassetten quasselt und all ihre Peiniger dazu zwingt, diese durchzuhören und sich zu schämen.
Wie hat die Welt reagiert?
Mit demselben Gefühl, das Selena Gomez in ihren Teenie-Jahren dazu verleitete, die Filmrechte an dieser Geschichte zu kaufen. Mit diesem «Ja, genauso ist es!»-Gefühl. Eine grosse Mehrheit amerikanischer (aber auch schweizerischer) Teenies sah sich in der Geschichte und ihrem absoluten Defizit an Selbstironie bestätigt und schluchzten selbstmitleidig ihren Laptop-Bildschirmen entgegen, auf denen sie sich die 13 Episoden voller Weltekel an einem Stück reinzogen. Der Autor dieses Artikels eingeschlossen.
Wieso ist das eine grosse Sache?
Hauptsächlich wegen der folgenden Schlagzeile, die kurz nach der Veröffentlichung der Serie die Runde machte:
Das «Ja, genau so ist es!»-Gefühl, das Jugendliche beim Schauen von «13 Reasons Why» fühlten, kommt nicht von irgendwoher. Der Freitod ist schon seit jeher ein romantisches Bild des diffusen Prozesses, der sich Adoleszenz nennt. Das war schon so, als Goethe 1774 den «Werther» schrieb und dieser empfindsame Status hat durch das Aufkommen von Social Media auch keineswegs gelitten.
Die Jugend ist narzisstisch und sie ist sentimental. Was sie empfänglich macht für nostalgisch-pessimistische Bilder mit einer Alle-sind-scheisse-inklusive-mir-Weltsicht. Und genau dieses Narrativ setzt die Netflix-Serie virtuos um – und trifft damit den Nerv der Jugend.
Weil wir diese Aufzählung nicht mit dem Freitod abschliessen wollen, einige «warme» Worte zum Schluss:
Am Ende des Jahres ist man meistens froh, dass es vorbei ist. Auch wenn man gar nicht genau weiss, wieso. Es gibt wohl wenige Menschen, die einem Jahr hinterhertrauern und wehmütig um fünf vor zwölf ins Sektglas schluchzen. Das wäre ja noch. Denn es geht eh – im Grossen und Ganzen – genau gleich weiter wie bisher.
Nächstes Jahr macht dann Unilever vermutlich eine Werbung für ihr Blackpower-Waschmittel, in der sie Linksautonomen zeigt, wie kräftig der schwarze Block an den Antirep-Demos doch leuchten könnte und Lady Gaga wird im 2018 wahrscheinlich eine Party-Club-Kette extra für introvertierte Menschen eröffnen. Weil «Just Dance» should include everyone – who has money.
Gott sei Dank gibt es auf Schweizerdeutsch ganz tolle Begrifflichkeiten, die solch lethargische Gedanken ganz fluffig wegschieben. Sie heissen:
Einewäg, guete Rotsch und so!