Viele Freikirchen und ihre Mitglieder sind in der freiwilligen Sozialarbeit engagiert. Sei es in unzähligen Missionsstationen in Schwellenländern, sei es bei sozialen Projekten in der Schweiz. Die Gläubigen leisten dabei viel Arbeit und unterstützen notleidende Menschen.
Es gibt bei ihrer freiwilligen Tätigkeit auch eine problematische Seite. Bei meiner Jahrzehntelangen Erfahrung mit Freikirchen stellte ich fest, dass bei den meisten freikirchlichen Projekten der missionarische Aspekt ein wichtiger Faktor ist.
Denn Gläubige aus Freikirchen haben rund um die Uhr die religiöse Brille auf und interpretieren selbst alltägliche Ereignisse und Vorkommnisse aus der religiösen Warte. Ausserdem gehört das biblische Gebot, das Evangelium zu verbreiten und Zeugnis für Gott und Jesus abzulegen, zu den wichtigsten religiösen Aufgaben.
Dieses Phänomen lässt sich auch bei der Beratungsstelle Heartwings beobachten, die in Zürich Sexarbeiterinnen beim Ausstieg unterstützt. Gegründet wurde das Projekt 2008 vom freikirchlichen Pastor Peter Widmer und seiner Frau Dorothée. Heartwings betreibt die Beratungsstelle an der Langstrasse in Zürich, also im Rotlichtmilieu.
Die beiden machen keinen Hehl daraus, dass sie bei ihrer Arbeit religiöse Ziele verfolgen. Ein paar Zitate aus einem Video mit dem Titel: «Göttliches Licht an dunklen Orten».
Pastor Peter Widmer sagt: «Wir wollten nicht warten, bis die Leute in die Kirche kommen, sondern wir wollten sie dort abholen, wo sie leben. Ganz missionarisch. So wurde die Langstrasse unser Arbeitsgebiet, unsere längste Kirche.»
Und weiter: «Das Wichtigste: Wir machen es wie Jesus. Er hat nicht gewartet, bis die Leute gekommen sind, sondern er ist hingegangen, war ein Freund der Sünde. So gehen wir in die Bordelle und in die dunkelsten Orte zu den schrägsten Leuten».
Peter Widmer betrachtet die Prostitution also primär aus moralischer Perspektive und versteht sie als Sünde. Deshalb wohl sind die für die Leute dort «schräg».
Nicht genug: «Wir sind der Tempel, wir sind die Kirche, wir sind die Gesandten dieser Welt. Zugerüstet zum Heilen», erklärt der Pastor weiter. Und: «Gottes Reich zu bauen ist nicht eine Theorie, sondern ganz praktisch. Es umspannt die ganze Welt. Es bewirkt übernatürlich neue Wunder. (…) Jesus ist für uns gestorben. Er hat uns ausgerüstet, um sein Reich zu bauen.»
Peter Widmer wurde mit sieben Jahren Opfer eines sexuellen Missbrauchs durch eine Frau aus dem Bekanntenkreis, wie er im Film erzählt. Als Teenager begann er nach Gott zu rufen. «Ich habe Jesus ganz persönlich kennengelernt.»
Bei der Suche nach einer Kirche geriet er an eine sektenhafte Gemeinschaft. Seine Frau Dorothée besuchte als Kind ebenfalls diese christliche Institution. Sie wurde als siebenjähriges Mädchen vom Pastor missbraucht. Später heirateten Dorothée und Peter. Sein Bekenntnis: «Ich möchte mich ganz stark auf Gott verlassen, nicht auf Menschen.»
Dorothée beschreibt ihre traumatische Jugend so: «Meine Kindheit war geprägt von Gewalt, von Manipulation, von Strenge und Religion.» Ihre Familie war «der Nährboden für den emotionalen, religiösen und sexuellen Missbrauch». Sie sei viele Jahre von dem Pastor sexuell missbraucht und von Suizidgedanken verfolgt worden. Sie habe auch Selbstmordversuche unternommen, wie sie im Porträt des freikirchlichen Sendegefässes erklärt.
Der Film dokumentiert, dass der religiöse Hintergrund bei der Beratung der Sexarbeiterinnen eine wichtige Rolle spielt. Diese Vermischung von Sozialarbeit und religiöser Gesinnung ist unprofessionell und missbräuchlich. Eine Mitarbeiterin einer unabhängigen Beratungsstelle formuliert es so: «Die Sexarbeiterinnen geraten von einer Abhängigkeit in die andere.»
Nach der Hochzeit engagierte sich das Ehepaar Widmer in der Mission in Tansania, bevor es die Beratungsstelle Heartwings gründete.
Viele Beratungsstellen, die unabhängig sind und keinen religiösen Hintergrund haben, gehen auf Distanz zu Heartwings. Die Einstellung der christlich geprägten Beratungsstelle zur Prostitution und ihre unrealistischen Versprechen an die ausstiegswilligen Sexarbeiterinnen sind für sie problematisch, wie sie gegenüber watson ausführten.
Den Leitungsgremien der unabhängigen Institutionen missfällt auch, dass Heartwings in den Medien überproportional präsent ist und die öffentliche Meinung bezüglich der politischen Haltung prägt. Dabei geht es aktuell um die Frage, ob es neue Gesetze für die Sexarbeit braucht.
Die Beratungsstelle propagiert das «Nordische Modell», wie es Schweden und Frankreich kennen. Dieses kriminalisiert die Freier. Konkret: Wird ein Mann bei einer Sexarbeiterin erwischt, wird er bestraft, die Frau aber nicht.
Unterstützt wird Heartwings von der Frauenzentrale Zürich. Die beiden Beratungsstellen organisieren gemeinsame öffentliche Aktionen. So lancierten sie am 5. Oktober 2024, dem internationalen Tag gegen Prostitution, gemeinsam die Kampagne «Für eine Schweiz ohne Freier».
Der Slogan ist ebenso naiv wie entlarvend: Für Heartwings ist die Sexarbeit eine schwere Sünde, die Gott missfällt. Deshalb sollen die Freier kriminalisiert und die Szene der Sexarbeiterinnen zerstört oder in den Untergrund getrieben werden. Das ist eine Illusion, denn die Prostitution gab es immer und überall. Solang es notleidende Frauen gibt, können weder Verbote und restriktive Gesetze daran etwas ändern.
Am vergangenen Dienstag organisierten die Frauenzentrale und Heartwings bereits die nächste Kampagne. Sie hatten den schwedischen Polizisten Simon Häggström eingeladen, der ein Buch über seine Jagd nach Freiern geschrieben hat.
Er ist stolz darauf, schon mehrere Hundert Männer erwischt und bestraft zu haben. Ein fragwürdiger «Erfolg», denn die ausländischen Sexarbeiterinnen werden wohl in ein Land ausweichen, das kein Verbot der Sexarbeit kennt.
Dass die Frauenzentrale gemeinsame Sache mit Heartwings macht, ist unverständlich. Leiterin Olivia Frei weist darauf hin, dass der Kanton Zürich Heartwings finanziell unterstützt. Die Behörden hätten die Beratungsstelle geprüft und für unterstützungswert betrachtet.
Olivia Frei wörtlich: «Zudem ist Heartwings das einzige Ausstiegsprogramm dieser Art und dieser Grösse. Die Alternative wäre, dass den Frauen, die aus der Prostitution aussteigen wollen und die andernorts keine Hilfe bekommen, nicht geholfen würde. Das ist nicht in unserem Sinn. (…) Wir verfolgen dasselbe Ziel: Wir möchten die Situation von prostituierten Frauen verbessern und langfristig das Nordische Modell in der Schweiz einführen.»
In der Diskussionssendung «Club» von SRF vom 26. November 2024 sagte Olivia Frei: «Mit dem Nordischen Modell können wir den Markt verkleinern und die Ausbeutung reduzieren.» Und: «Schweden hat ein wunderbares Gesetz geschrieben.»
Lelia Hunziker, Geschäftsführerin FIZ, Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration, und Vorstandsmitglied von ProCoRe, dem nationalen Netzwerk, das sich für die Rechte und Anliegen von Sexarbeitenden einsetzt, hielt dagegen. Das Kontaktverbot während der Corona-Pandemie habe gezeigt, dass die Gewalt gegenüber Prostituierten in dieser Zeit gestiegen sei und die ungewollten Schwangerschaften zugenommen hätten.
In Schweden und Frankreich, wo das Sexarbeitsverbot gelte, finde die Prostitution trotzdem statt, wie Untersuchungen ergeben hätten. Die 30 Fachstellen von ProCoRe kamen zum Schluss, dass die Sexarbeiterinnen aus Drittländern am verletzlichsten seien und besonders viel Gewalt erlebten. Sie seien oft Opfer von Menschenhandel und bräuchten Zugang zum Opferschutz. Ausserdem müssten sie zur Polizei gehen können, wenn Freier gewalttätig werden. Mit einer Entkriminalisierung der Prostitution könnten sie am besten geschützt werden.
Sogar Cornelia Zürrer von der Freikirche Heilsarmee ist gegen das Nordische Modell. Sie berät und betreut seit vielen Jahren Sexarbeiterinnen und bestätigte, dass die vulnerabelsten Sexarbeiterinnen bei einem Sexkaufverbot durch alle Maschen fallen würden und zurück in ihre Heimat müssten, wo sie noch stärker ausgebeutet würden.
Eine Sexarbeiterinnen sagte in der Sendung zum Nordischen Modell: «Ich bin totale Gegnerin. Wieso müssen wir unsere Kunden kriminalisieren? Das sind keine Kriminellen.»
Tatsächlich versprechen Menschenhändler alleinerziehenden Müttern aus armen afrikanischen, südamerikanischen, asiatischen und osteuropäischen Ländern einen lukrativen Job in einer Bar. In der Schweiz angekommen, werden die Frauen zur Sexarbeit gezwungen.
Da sie kein Deutsch sprechen und keinen Aufenthaltsstatus haben, können sie sich nicht wehren. Sie sind gezwungen, Freier zu bedienen. Die Frauen haben keine Wahl, weil sie ihren Eltern, die die Kinder betreuen, Geld schicken müssen.
watson stellte Peter Widmer von Heartwings mehrere Fragen zur Arbeit und zur Haltung der Beratungsstelle. Es ging vor allem auch um die Vermischung von religiösen Ansprüchen und sozialer Arbeit. Statt die Fragen zu beantworten, schickte er ein schmeichelhaftes Selbstporträt der Beratungsstelle. Ein Hinweis mehr, dass der Glaube bei der Arbeit eine wichtige Rolle spielt.
Ein Gesetz nach dem Nordischen Modell wäre nicht nur für die Sexarbeiterinnen ohne Aufenthaltsstatus eine Katastrophe, sondern auch für alle Frauen in diesem Gewerbe. Sie haben denn auch bei der Lesung des schwedischen Freierjägers mit grossen Plakaten vor dem Volkshaus protestiert.
Die Gläubigen bei Heartwings können mit einer gesetzlichen Verschärfung die Prostitution allenfalls ein wenig zurückdrängen, doch sie verlagern die «Sünde», um die es ihnen geht, nur in ein anderes Land. Wahrscheinlich ein Land, das nicht so viele Beratungsstellen und Unterstützungsprogramme hat wie die Schweiz.
Christliche Nächstenliebe und Barmherzigkeit sehen anders aus.