Wo lebt es sich am gefährlichsten? In Syrien? Im Kongo? Es ist eine Region, die selten in den Medien erscheint. El Salvador, Guatemala und Honduras seien «praktisch Kriegsgebiete geworden, wo Leben entbehrlich zu sein scheint», sagte Salil Shetty, Generalsekretär von Amnesty International, im letzten Oktober in der honduranischen Hauptstadt Tegucigalpa.
In den drei erwähnten Ländern lebten Millionen «in ständigem Schrecken», was Bandenmitglieder oder staatliche Sicherheitskräfte ihnen oder ihren Liebsten antun könnten. Diese Millionen sind Protagonisten in einer der am wenigsten sichtbaren Flüchtlingskrisen. Laut dem UNHCR haben 2015 rund 48'000 Menschen aus den drei Staaten Asyl in anderen Ländern beantragt. Zahlreiche weitere sind illegal eingereist, vor allem in die USA.
Der amerikanische Kontinent weist laut dem Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) die weltweit höchste Mordrate auf, mit 16,3 Toten auf 100'000 Einwohnern. Das ist fast das Dreifache des globalen Durchschnittswerts von 6,2 Mordopfern. Die meiste Gewalt gibt es in Lateinamerika und in der Karibik. Und nirgends ist sie so schlimm wie im «nördlichen Dreieck», zu dem El Salvador, Guatemala und Honduras gehören.
In El Salvador lag die Mordrate 2015 gemäss UNO-Statistik bei 109 Opfern pro 100'000 Personen, womit das kleine, aber dicht besiedelte Land mit weitem Abstand an der Spitze lag. Der nach dem «Heiland» benannte Staat hat fast so viele Einwohner wie die Schweiz, ist aber nur halb so gross. In Honduras (64) und Guatemala (31) war die Mordrate tiefer, aber immer noch weit über dem Durchschnitt. Zum Vergleich: In der Schweiz betrug sie 0,69 Todesopfer auf 100'000 Leute.
Gleich geht's weiter mit der Analyse, vorher ein kurzer Hinweis:
Und nun zurück zum Text ...
Ausserhalb von Kriegsgebieten kommen nirgendwo so viele Menschen gewaltsam ums Leben wie in den drei Ländern Zentralamerikas. Bereits in den benachbarten Staaten Nicaragua und Costa Rica, das seine Armee 1948 abgeschafft hat, ist die Mordrate wesentlich tiefer. In Mexiko, wo die brutalen Drogenkartelle immer wieder für Schlagzeilen sorgen, lag sie 2015 bei 16,3 Opfern.
Die brutale Gewalt wirkt sich auf die Bevölkerung aus. Wer kann, versucht zu fliehen. Fast zehn Prozent der rund 30 Millionen Einwohner des «nördlichen Dreiecks» haben laut dem Council on Foreign Relations ihre Heimat verlassen. Die USA sind das bevorzugte Ziel. Längst haben die Salvadorianer, Guatemalteken und Honduraner die von Präsident Donald Trump ins Visier genommenen Mexikaner als grösste Einwanderergruppe aus dem Süden abgelöst.
Für die Morde sind in erster Linie die berüchtigten Mara-Gangs verantwortlich. Die tätowierten Männer wurden zu Symbolfiguren der Gewalt in Zentralamerika. Die hohe Mordrate ist aber nur ein Teil des Problems. Nicht weniger schlimm sind die Schutzgelderpressungen. Sie können jeden treffen und betragen laut lokalen Medien mehrere Dutzend bis Hundert Millionen Dollar pro Jahr.
Wen wundert es da, dass die Menschen in diesen Ländern in ständigem Schrecken leben. Wie konnte es so weit kommen? Die Gewalt unterscheidet sich von Land zu Land, doch laut der Studie des Council on Foreign Relations gibt es Gemeinsamkeiten: Die Jugendgangs, den Drogenschmuggel in die USA sowie das geringe Risiko, für ein Verbrechen bestraft zu werden. Bis zu 95 Prozent der Straftaten werden nie aufgeklärt.
So geschah es auch im Fall der jungen María aus El Salvador. Zehn Jahre lang hatte sie die Häuser reicher Menschen geputzt, um gemeinsam mit ihrer Mutter die Schlepper für die gefährliche Reise Richtung USA bezahlen zu können. Als es so weit war, nahmen sie ein Taxi, um die Menschenschmuggler zu treffen – und wurden nie wieder gesehen.
Zum Verhängnis wurde ihnen wohl, dass Maria eine Beziehung hatte mit einem Mitglied der Gang Mara Salvatrucha (MS-13), erzählte ihr Cousin der Website Vice. Das Treffen aber sollte auf dem Territorium der rivalisierenden M-18 stattfinden. Die beiden Gangs, die ihre Wurzeln in Los Angeles haben (MS-13 wurde in den 1980er Jahren von Salvadorianern gegründet, die vor dem Bürgerkrieg geflohen waren), liefern sich einen erbarmungslosen Krieg ohne Rücksicht auf Verluste.
Die Regierungen im «nördlichen Dreieck» versuchten lange, das Problem mit einer Politik der «Mano dura», der harten Hand, zu «lösen». Sie bewirkte das Gegenteil und verschlimmerte alles. 2012 gelang es Mauricio Fuentes, dem ersten linken Präsidenten von El Salvador, einen Waffenstillstand zwischen den Gangs zu vereinbaren. Die Zahl der Morde ging danach deutlich zurück. Der Frieden hielt zwei Jahre, danach ging das Gemetzel wieder los.
Beobachter sind sich einig, dass die Gewalt verschiedene Ursachen hat: Eine extreme soziale Ungleichheit, fehlende Aufstiegschancen, eine miserable Steuermoral der Wohlhabenden und damit verbunden schwache Institutionen. Eine Folge davon ist eine grassierende Korruption. Häufig verdingen sich korrupte Polizisten als Söldner im Dienste der Jugendbanden.
Die Bürgerkriege in El Salvador (1980 bis 1991) und Guatemala (1960 bis 1996) trugen das ihre zu einer Verrohung der Gesellschaft bei. In Honduras kam es nie zum Bürgerkrieg, allerdings bekämpften die rechtsradikalen, von den USA unterstützen Contra-Rebellen in den 1980er Jahren von dort aus die linke Sandinisten-Regierung in Nicaragua.
Solange die Probleme nicht an der Wurzel bekämpft werden, wird die Region nicht aus der Gewaltspirale herausfinden. Experten hoffen auf ein verstärktes Engagement der Zivilgesellschaft. In Guatemala führten Massenproteste 2015 zum Rücktritt und zur Verhaftung des korrupten Präsidenten Otto Pérez Molina.
Bis die Bewohner der drei Länder in Frieden leben können, wird es dauern. Weitere werden zu fliehen versuchen. In den letzten Jahren tauchten immer öfter unbegleitete Minderjährige in den USA auf. Ihre Eltern hatten sie allein auf den Weg geschickt aufgrund eines Gerüchts, wonach solche Flüchtlinge nicht zurückgeschafft würden. So gross ist die Verzweiflung im «nördlichen Dreieck».