Nach dem Brexit-Entscheid herrschte bei einem Grossteil der jungen Stimmbürger Grossbritanniens Konsternation. Die Jungen fühlten sich um ihre Zukunft betrogen, übergangen von einer Generation, die die Segnungen des freien Personenverkehrs genossen hat und nun beschlossen hat, die Brücke nach Europa hinter sich abzureissen: komme, was da wolle.
Those who will have to live with this decision voted against #brexit #NoComment pic.twitter.com/DJRMSvwkzG
— David Molina (@_David_Molina) 24. Juni 2016
Der Entscheid sei nicht fair gewesen, monierten die Jungen. Dem Vorwurf, dass sie der Urne fern blieben (gemäss Umfragen gaben nur gerade 36 Prozent der 18 bis 24-Jährigen ihre Stimme ab), begegneten sie damit, dass selbst bei einer fast 100-prozentigen Stimmbeteiligung das Pendel immer noch zugunsten der älteren Stimmbürger – und damit zugunsten der Brexit-Befürworter – ausgeschlagen hätte. Mit anderen Worten: Die Alten sind derart in der Überzahl, dass sie faktisch über ein Vetorecht an der Urne verfügen.
% who got through our final #EUref poll turnout filter by age group:
— Sky Data (@SkyData) 25. Juni 2016
18-24: 36%
25-34: 58%
35-44: 72%
45-54: 75%
55-64: 81%
65+: 83%
EU referendum by age group — 75% of voters aged 24 and under voted against Brexit https://t.co/eQci0vNffx pic.twitter.com/UADq1NaL8v
— POLITICO Europe (@POLITICOEurope) 24. Juni 2016
Auch wenn nicht erwiesen ist, dass es sich bei der Abstimmung über eine Zukunft in Europa um eine Generationenfrage handelte: Für viele ist klar, das urdemokratische Prinzip «One man, one vote» ist aufgrund der demografischen Verschiebung überholt – nicht nur in Grossbritannien, sondern auch in der Schweiz.
Die Zürcher SP-Regierungsrätin Jacqueline Fehr hat unlängst die Idee eines gewichteten Stimmrechts propagiert. 18- bis 40-Jährige könnten 2 Stimmen, 40 bis 65-Jährige 1.5 Stimmen und über 65-Jährige 1 Stimme erhalten. So könnte die Repräsentation der jungen Generation sichergestellt werden.
Für Politologe Daniel Kübler keine valable Alternative. «Die moderne Demokratie zeichnet sich gerade dadurch aus, dass jedes Individuum die gleichen Rechte hat – gerade auch beim Stimmrecht.»
Konsequent angewandt, würde das «One-man-one-vote-Prinzip» bedeuten, dass jeder Bürger, unabhängig von seinem Alter, eine Stimme hat. Gewisse Kreise plädieren deshalb dafür, dass auch Kinder das Stimmrecht ausüben sollten – vertreten durch ihre Eltern. Kübler sieht hier dieselben Schwierigkeiten wie beim gewichteten Stimmrecht. Die Stimme an der Urne müsse von einem urteilsfähigen Individuum in einem Entscheidungsprozess selber gebildet werden, ansonsten werde der demokratische Prozess ad absurdum geführt.
Mit wiederkehrender Regelmässigkeit werden Abstimmungsergebnisse beklagt, die von einer Gruppe entschieden werden, die vom Entscheid nicht oder kaum tangiert würde. Ein typisches Beispiel sind Diskussionen über Kindertagesstätten oder Kinderzulagen. Politikwissenschafter Kübler kann der Idee nichts abgewinnen: «In einer Demokratie kommt es immer wieder vor, dass sich eine Gruppe übergangen fühlt und mit einer Entscheidung unzufrieden ist, das kann man nie ändern». Allerdings gebe es im Nachgang zu einer Abstimmung oftmals einen Lerneffekt – und wenn sich die Folgen als untragbar erweisen sollten, dann sei das kein Weltuntergang. «In einer halbdirekten Demokratie wie der Schweiz bieten sich dem Stimmvolk immer wieder Korrekturmöglichkeiten.»
Mit der Senkung des Stimmrechtsalters auf 16 Jahre soll das demografische Übergewicht der älteren Generationen eingedämmt werden. In der Schweiz kennt der Kanton Glarus seit 2007 einen entsprechenden Passus. Jüngst lancierte ein linkes Bündnis im Baselbiet eine Initiative zur Senkung des Stimmrechtsalters. Kübler erachtet das Stimmrechtsalter 16 als Chance, die Jungen stärker in politische Prozesse einzubinden. Er gibt aber zu bedenken, dass die Stimmbeteiligung bei einer Einführung weiter sinken würde. «Ein Gutteil der minderjährigen Stimmbürger würden wohl der Urne fernbleiben, weil sie sich nicht befähigt fühlen, über mitunter komplexe politische Themen mitzubestimmen.»
In keinem anderen Land hat das Stimmvolk ähnlich weitgehende Mitbestimmungsrechte wie in der Schweiz. Jeder Stimmbürger kann jährlich über Dutzende Vorlagen auf Gemeinde-, Bezirks,- und Bundesebene abstimmen. Nicht nur Junge fühlen sich angesichts der Komplexität der Themen mitunter überfordert. «Das Thema politische Bildung wird in der Schweiz stiefmütterlich behandelt», sagt Daniel Kübler. «Man geht mit einer gewissen Selbstverständlichkeit davon aus, dass Schweizer die Demokratie mit der Muttermilch einsaugen.» Dabei gehe vergessen, dass politische Kompetenzen ebenso erlernt werden müssen wie andere Grundlagenfächer.
«Wir leben in einer digitalen Welt, wieso können wir da nicht auch digital unsere Stimme abgeben?», fragten sich vor zwei Wochen Zehntausende junge Briten. Das E-Voting-System spaltet die Gemüter. Die einen beklagen eine Mausklick-Mentalität, bei der die Auseinandersetzung mit den politischen Themen in den Hintergrund rückt. Andere weisen auf den Trend zur Digitalisierung in allen Lebensbereichen hin, der E-Voting auf kurz oder lang unabdingbar macht. Für Kübler bietet das elektronische Wählen grosse Chancen: «Die Vereinfachung der Stimmabgabe ist grundsätzlich keine schlechte Idee. Bei der Einführung der Briefwahl hatten viele ähnliche Bedenken. Mittlerweile ist die Briefwahl aber nicht mehr wegzudenken.» Gleichzeitig sei die Gefahr der Stimmverfälschung nicht zu unterschätzen. «Das grosse Problem beim E-Voting ist nach wie vor die Sicherheit. Es liegt auf der Hand, dass hier Nachholbedarf besteht.» In der Schweiz haben Neuenburg und Genf im Herbst Pionierarbeit geleistet: In den beiden Westschweizer Kantonen konnte man erstmals bei nationalen Wahlen online abstimmen – die Stimmbeteiligung unter den Jungen ist jedoch nicht gestiegen.
Ein weiteres Mittel, um die Abstimmungsbeteiligung zu fördern, ist der Stimmzwang. Dabei wird jeder Stimmbürger verpflichtet, seine Stimme abzugeben – ob er sein Stimmcouvert leer einlegt, bleibt ihm überlassen. Kommt er der Verpflichtung nicht nach, so wird eine Busse fällig. In der Schweiz kennt nur der Kanton Schaffhausen den Stimmzwang – die Abstimmungsbeteiligung ist dementsprechend höher. Die Freiheit der Demokratie ist auch die Freiheit der Nichtteilnahme, zeigt sich Demokratieforscher Kübler skeptisch. Ausserdem führe eine solche Regelung dazu, dass Leute abstimmen, die gar keine richtige Meinung haben.
Die Schweiz gehört zu den europäischen Ländern mit dem höchsten Ausländeranteil. Ende 2014 betrug der Anteil der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung 24,3 Prozent. Auf eidgenössischer Ebene existiert kein Stimmrecht für Ausländer. Ein Viertel der Bevölkerung in der Schweiz ist damit vom demokratischen Prozess ausgeschlossen – für Kübler ein Unding. «Mindestens auf lokaler Ebene sollte Ausländerstimmrecht eingeführt werden.» Der Politikwissenschafter weist auf den Jura und Neuenburg hin, die beide gute Erfahrungen mit dem Ausländerstimmrecht auf Kantonsebene gemacht hätten. Auf nationaler Ebene sei das Stimmrecht für Ausländer aufgrund der fehlenden Akzeptanz aber kein Thema: «Das ist absolut chancenlos.» Dabei könnte aufgrund des tieferen Durchschnittsalters der ausländischen Bevölkerung die Alterspyramide zugunsten der Jungen verändert werden.
(wst)