Britisch? Indisch? Bengalisch? Bei Chicken Tikka Masala ist alles anders, als du denkst
Was ist das populärste Gericht im Vereinigten Königreich? Das statistisch am häufigsten gegessene? Das Nationalgericht, gar?
Tadaaa. Chicken Tikka Masala.
Dies, obwohl – selbst im Jahr 2024 – weiterhin zigtausend Memes existieren über angeblich «fades» britische Essen. Immer noch scheint die Meinung zu herrschen, auf der Insel ernähre man sich hauptsächlich von Gerichten, die in Wahrheit schon seit den Fünfzigerjahren nicht mehr Standard sind.
Klar – Leute, welche diese Meinung vertreten, sind entweder nie in Grossbritannien gewesen oder vielleicht einfach ein wenig ungebildet (oder eine Kombination von beidem – setz dich wieder hin, USA!). Und wenn man's sich überlegt, meint schliesslich auch die ganze Welt, in der Schweiz ernähre man sich von Fondue und Schokolade und sonst nichts. Aber item – zurück zum Thema!

Letztendlich sprechen die Statistiken für sich. Die durchschnittliche britische Familie isst im Schnitt mindestens ein Mal die Woche Curry. Pro Kopf gibt der durchschnittliche Brite in seinem Leben um die 30'000 Pfund für Curry aus. Zwei Drittel aller Takeaways und Home Deliveries sind Curry-Gerichte. Der Gesamtwert des Indian Food Business im Vereinigten Königreich wird auf rund 4 Milliarden Pfund geschätzt.
Und das weitaus am meisten gegessene Gericht ist Chicken Tikka Masala.
Woher kommt die Popularität von Curry im Allgemeinen und Chicken Tikka Masala im Spezifischen?
Aufstieg und Fall des Great British Curry House
Als Seefahrernation waren die Städte Grossbritanniens seit je her Zentren kulturellen Austauschs. Seeleute, Migranten und Händler aus aller Welt bildeten bereits seit der Antike Teil des sozialen Gefüges. Und sie alle brachten ihre kulinarischen Traditionen – und Zutaten – mit nach Grossbritannien.
Erste Erwähnungen von «currey» [sic!] tauchen bereits in der Renaissance auf. Das erste Curryrezept wurde 1747 in «The Art of Cookery made Plain and Easy» von Hannah Glasse veröffentlicht. Und mit Sake Dean Mahomed's Hindostanee Coffee-House wurde 1810 das erste Curry-Restaurant eröffnet.
Curry-Restaurants gibt es also seit mehr als 200 Jahren, Curry-Rezepte seit bald 300 Jahren. Doch für die Entwicklung des typisch britischen Curry House und damit für die Entstehung von Chicken Tikka Masala ist eine spezifische Bevölkerungsgruppe wichtig: Lascars nannte man jene bengalischen Seeleute, die in den Ostlondoner Docklands ankamen und alsbald erste Restaurants für ihresgleichen eröffneten. Diese dockside cafes bildeten den Anfang von dem, was sich im 20. Jahrhundert zum typischen British Curry House entwickeln würde.
Ergo, britisch-indische Küche ist vor allem Bengali-geprägt. Dies widerspiegelt sich selbst heute noch in der Statistik: 80 Prozent aller sogenannten Indian restaurants in Grossbritannien werden von Bangladeshi geführt. Und 90 Prozent ebendieser können ihre Herkunft auf eine einzige Region zurückführen: Sylhet. Die restlichen 20 Prozent der Restaurants werden mehrheitlich von Pakistani geführt – auch hier die meisten aus zwei sehr spezifischen Regionen: Punjab und Mirpur.
Dass diese Restaurants sich selbst pauschalisierend als «Indian» betitelten – und, dass man umgangsprachlich heute noch «let's go for an Indian» sagt –, ist ein linguistisches Überbleibsel des Kolonialismus aus einer Zeit, in der der Subkontinent noch nicht in die drei heutigen Nationen Pakistan, Indien und Bangladesch (1947 zunächst noch East Pakistan) aufgeteilt war.
Die bengalische Küche hatte sich in Grossbritannien bis Mitte des 20. Jahrhunderts also etabliert. Doch vollends zum Mainstream wurde sie in den Siebzigerjahren. Der Befreiungskrieg in Bangladesch 1971 führte zu einer grossen Migration von Bengalen (erneut vor allem aus dem Gebiet von Sylhet) nach Grossbritannien, wo sie sich in die bereits im ganzen Land vorhandenen bangladeschischen Gemeinschaften einfügten. Derweil führte die Deindustrialisierung und der Mangel an Arbeitsplätzen dazu, dass viele von ihnen in das Gastgewerbe einstiegen, das zumeist in Familienbesitz und -betrieb war. Parallel dazu hatte eine neue Generation jüngerer Briten Appetit auf «exotische» Speisen entwickelt. Und so fand das Great British Curry House zu seiner endgültigen Form: als Restaurant, das sich nicht nur an Einwanderergemeinschaften richtete, sondern auch an eine weisse britische Arbeiterklasse. Das Essen änderte sich, um diesen Ansprüchen gerecht zu werden, und Chicken Tikka Masala ist das berühmteste Beispiel dafür.
Chicken Tikka stammt vom indischen Subkontinent und besteht aus gegrillten Hähnchenteile, die zuvor in Joghurt und Gewürzen mariniert wurden (quasi: Tandoori Chicken aber ohne Knochen). Der «Masala»-Teil des Namens ist, das, was es zu einem britischen Gericht macht. Es gibt einige Entstehungstheorien, doch immer mehr erhärtet sich die des Ali Ahmed Aslam, Besitzer des Restaurants Shish Mahal in Glasgow in Schottland, der 1971 erstmals Chicken Tikka mit einer sämigen Tomatensauce kombinierte, nachdem ein Gast sich beschwert hatte, die Hühnerspiesschen seien zu trocken.
Das Restaurant Moti Mahal in Dehli beansprucht ebenfalls das Rezept für sich, da es Ähnlichkeiten mit Butter Chicken aufweist, ein Gericht, dass in jenem Restaurant entwickelt worden sein soll.
Ab Ende der Siebzigerjahre war der Durchmarsch von Curry auf der Insel unaufhaltbar. Und Chicken Tikka Masala war an der Speerspite. Als Folge davon galt es zunehmend weniger als «exotisch» und mehr als «britisch». Dies gipfelte darin, dass der britische Aussenminister Robin Cook im Jahr 2001 das Gericht in einer Rede als «the true British national dish» erwähnte – als Beispiel für den Erfolg des Multikulturalismus in Grossbritannien.

6'500 Mal pro Jahr. So viel wird Chicken Tikka Masala in einem einzigen Restaurant bestellt. Jamil Khan, Betreiber des Royal Raj Restaurant in Bristol, kann es belegen. Im Interview mit YouTuber Andy Burgess von Faultline bestätigt Khan, dass, obwohl immer wieder neue Gerichte angeboten werden, der Grossteil der Kundschaft weiterhin auf Chicken Tikka Masala besteht. Was sich bloss als nervige Sturheit der Gäste anhört, ist aber Indiz eines grösseren Problems: The Great British Curry House befindet sich im Niedergang.
Die gesamte Gastro-Branche in Grossbritannien leidet an Personalmangel, hervorgerufen durch Brexit und verschärfter Einwanderungsgesetze. Und auch der Umsatzeinbruch aufgrund der Pandemie ist weiterhin noch spürbar. Für die klassischen britischen Curryrestaurants kommt ein weiterer Grund für den Rückgang dazu: der Erfolg von Chicken Tikka Masala. Das Gericht ist derart Mainstream, derart britisch, dass man nicht mehr dafür in das Spezialitätenrestaurant gehen muss. Jegliches Pub, das traditional British pub grub anpreist, jedes Büezer-Café, das all day breakfast serviert, wird meist auch Chicken Tikka Masala im Angebot haben. Jede Tesco-, Waitrose- oder Aldi-Filiale wird nicht eine, sondern eine Auswahl an verschiedenen Chicken-Tikka-Masala-Fertigmenus im Angebot haben. Und zu Hause ein paar Pouletstücke anbraten und mit einer Fertigsauce von Sharwoods mischen, stellt gewiss kein Gourmet-Menu dar, aber dennoch eine ganz passable Version des Nationalgerichts.
Nun, ganz aussterben werden die Curry Houses auf der Insel gewiss nicht. Ging die Gesamtanzahl an Restaurants der Nation in den letzten Jahren etwas zurück, ist dafür die Vielfalt südasiatischer Restaurants heute so breit wie noch nie. Nun findet man nicht nur jene bengalisch-punjabische Küche der alten Schule, es gibt Restaurants, die sich auf die keralische oder die goanische Küche spezialisiert haben; auf die Gujarati-Küche, die Parsi-Küche und viele, viele mehr.
Heute gliedert sich das südasiatische Gastgewerbe in Grossbritannien in vier Kategorien:
- «Old school»: Curry Houses, wie man sie seit mehr als ein halbes Jahrhundert kennt, mit ihrer britischen Version einer bengali-punjabi-Küche. (Solche findet man weiterhin landauf landab auf jeder High Street.)
- «Authentic»: Restaurants, die sich nach wie vor fast ausschliesslich an ein südasiatisches Klientel richten und daher unverfälschte, wie im Herkunftsland zubereitete Speisen anbieten. Solche befinden sich exklusiv in Gebieten mit einer grossen südasiatischen Einwohnerschaft. (In London, etwa: Wembley für indische, Tooting für pakistanische, Whitechapel für bengalische Küche etc.)
- «Fine dining»: Schicke Restaurants der oberen Preisklasse, welche die Traditionen europäischer Gourmet-Restaurants mit der Küche des Subkontinents kombinieren. (In London, etwa: Trishna in Marylebone, Chutney Mary in St. James etc.)
- «New Age»: Restaurants der mittleren Preisklasse, die ein Konzept folgen, das oftmals auf regionale oder historische Gerichte aufbaut, Cocktails im Angebot haben und sich an ein jüngeres urbanes Publikum richten. (Masala Zone, Dishoom, Hoppers etc.)
Und siehe da: Die meisten dieser Restaurants bieten weiterhin Chicken Tikka Masala an. Vielleicht etwas edler, sorgfältiger zubereitet. Oder in einer historischen Version, das sich vom heutigen Standard etwas unterscheidet. Doch nicht ohne Stolz wird das Gericht weiterhin gefeiert: Our national dish.
Und nun ist höchste Zeit, dass ich euch ein Rezept liefere. Los geht's!
Und hier das Rezept!
Nein, nicht «das» Rezept, denn ein einziges, definiertes gibt es nicht. Aber so – ungefähr – koche ich CTM. Und so – ungefähr – solltest es du auch mal versuchen. It's delish.
Zutaten:
Für 4 Personen
Marinade:
- 500 g Hühnerschenkel, entbeint (Hühnerbrust geht auch), in zirka 3cm-Stücke geschnitten
- 100 ml Nature-Joghurt
- 2 Knoblauchzehen, geschält, zerdrückt
- 1 EL frischer Ingwer, geraffelt
- Saft einer halben Zitrone
- 1 TL Koriander, gemahlen
- 1/2 TL Kurkuma
- 1/2 TL Kreuzkümmel, gemahlen
- 1 TL Kaschmiri Chilipulver (o.Ä.)
- etwas Zimt
- Salz und frisch gemahlener schwarzer Pfeffer (zirka 1/2 TL)
- 2 EL Rapsöl
Masala-Sauce:
- 1 EL Rapsöl
- 1 EL Ghee oder Butter
- 1 Zwiebel, fein geschnitten
- 1 TL Kreuzkümmelsamen
- 1 EL frischer Knoblauch, gepresst
- 1 EL frischer Ingwer, geraffelt
- 2 grüne Chilis, grob gehackt
- 1 TL Garam Masala
- 1 TL Koriander, gemahlen
- 2 TL Kashmiri Chilipulver (oder weniger, nach Belieben)
- 1 Dose Pelati, gehackt oder die entsprechende Menge frische Tomaten, gehackt
- etwas Wasser
- 5 EL Rahm
- 3 EL gemahlene Mandeln
- 1 EL brauner Zucker
Zubereitung:
- Pouletstücke mit Joghurt, Knoblauch, Ingwer, Zitronensaft, Koriander, Kurkuma, Kreuzkümmel, Paprika, Chilipulver, Zimt, Salz und Pfeffer in eine Schüssel oder einen Gefrierbeutel geben. Alles miteinander vermengen, abdecken und im Kühlschrank mindestens 2 Stunden marinieren lassen (oder gleich über Nacht).
- Etwa 40 Minuten vor dem Essen: Öl und Ghee oder Butter in eine grosse Bratpfanne geben und bei mittel bis hoher Hitze schmelzen. Zwiebel und Kreuzkümmelsamen hinzufügen und 4-5 Minuten dünsten, bis sie weich ist.
- Knoblauch, Ingwer, grüne Chilis, Garam Masala, gemahlenen Koriander, Chilipulver und Tomatenpüree hinzufügen. Umrühren und 2-3 Minuten kochen, bis die Gewürze ihren Duft entfalten können.
- Dosentomaten und etwas Wasser hinzugeben. Umrühren und zum Kochen bringen, dann 15-20 Minuten köcheln lassen, bis die Masse eingedickt ist (jetzt ist ein guter Zeitpunkt, den Reis aufzusetzen und/oder das Naan in den Ofen zu tun).
- Das marinierte Poulet auf einem Backblech ausbreiten. Mit etwas Öl bepinseln und im Ofen auf hoher Grillstufe 8-10 Minuten grillieren, bis es stellenweise gut gebräunt ist. Wenn die Pouletstücke nicht zu gross sind, müssen sie nicht gewendet werden, aber wenn sie unten nicht durchgebraten sind, kann man sie zwischendurch mit einer Zange wenden. Um sicherzustellen, dass es gar ist, ein grösseres Stück anschneiden und sicherstellen, dass es in der Mitte nicht mehr rosa ist.
- Rahm in die Sauce einrühren, und auch die gemahlenen Mandeln, den Zucker und das Chicken Tikka. Weitere 5 Minuten köcheln lassen.
- Mit Basmatireis und/oder Naan servieren. Dazu ein Kingfisher- oder Cobra-Bier.
