Corona? War da was?
Für viele Menschen sind die beiden Pandemiejahre in weite Ferne gerückt. Noch sieht man sporadisch Menschen mit Maske, und noch immer machen die Befürworter und Gegner von Schutzmassnahmen Lärm in den sozialen Medien. Aber die Empörungswellen sind genauso abgeflaut wie die Infektionswellen.
Am 17. Februar 2022 hatte der Bundesrat die meisten Massnahmen aufgehoben, vor allem die Zertifikatspflicht. Bis Ende März galten noch eine Maskenpflicht vor allem im öffentlichen Verkehr und die Selbstisolation nach einer Ansteckung. Danach wurde die «besondere Lage» beendet. Die Schweiz kehrte gesellschaftlich und politisch zur Normalität zurück.
Der Entscheid des Bundesrats, den Ausstieg in der kalten Jahreszeit einzuleiten, war ein Wagnis. Wenige Wochen zuvor hatte es auf vielen Intensivstationen einmal mehr kritisch ausgesehen. Die im November im südlichen Afrika aufgetauchte und hoch ansteckende Omikron-Variante des Coronavirus hatte die Hospitalisierungen ansteigen lassen.
Mit Omikron aber hat das Virus auch seinen grössten Schrecken verloren, obwohl es wiederholt zu Infektionswellen kam und viele sich angesteckt haben. Langzeitfolgen sind nicht auszuschliessen, aber bislang scheinen jene Experten recht zu behalten, die davon ausgehen, dass das Virus mit jeder Mutation an «Durchschlagskraft» einbüsst.
Selbst Wissenschaftler, die stets zu Wachsamkeit anhielten, geben vorsichtig Entwarnung. Dazu gehören der Berliner Star-Virologe Christian Drosten oder seine Genfer Kollegin Isabella Eckerle. «Übergang von Pandemie zu Endemie ist in meinen Augen grösstenteils vollzogen», schrieb sie Anfang Februar in einem längeren Twitter-Thread.
Es sagt einiges aus über die aktuelle Situation, dass vorwiegend über Schädigungen durch die mRNA-Impfstoffe gesprochen wird. Sie sind ein Problem. Die Heilmittelbehörde Swissmedic hat in der Schweiz bis jetzt rund 6000 schwerwiegende Nebenwirkungen gezählt. Dem stehen jedoch rund 17 Millionen verabreichte Impfdosen gegenüber.
Mit anderen Worten: Der Nutzen der Corona-Impfung übersteigt die Risiken bei Weitem. Sie hat Millionen Menschen vor Tod oder schwerer Erkrankung bewahrt. Ich selbst habe keine meiner vier Impfungen bereut. Die in Rekordzeit entwickelten Vakzine sind ein Triumph der Wissenschaft. Wo wir ohne sie wären, wollen wir vermutlich gar nicht wissen.
Einen Hinweis erhält man, wenn man nach China schaut, das mutmassliche Ursprungsland von Sars-Cov-2. Dort versteifte sich der Staat lange auf seine Zero-Covid-Politik und vernachlässigte dabei den Impfschutz. Seit der abrupten Aufhebung aller Massnahmen Anfang Dezember dürften deswegen trotz Omikron Hunderttausende gestorben sein.
Ein starker Immunschutz, ob durch Impfung, Infektion oder, wie Experten meinen, am besten eine Kombination von beidem, ist der Schlüssel dafür, dass wir aus dem Gröbsten raus sind. Selbst die Gegner von Impfungen und Corona-Massnahmen, die zweimal ein Referendum gegen das Covid-19-Gesetz gestemmt – und verloren – haben, wollen nach vorn schauen.
Zwar kam die Liste der Corona-Skeptiker bei den Wahlen in Zürich immerhin auf mehr als zwei Prozent der Stimmen. Aber das dritte Referendum gegen das Covid-Gesetz harzt. Sechs Wochen vor dem Ende der Sammelfrist ist gemäss der Website der «Freunde der Verfassung» nicht einmal die Hälfte der angestrebten 60’000 Unterschriften beisammen.
Gesundheitsminister Alain Berset lobte vor einem Jahr die «grosse, ruhige Mehrheit». Ihr ist es zu verdanken, dass die Schweiz mit einer Mischung aus Glück und Verstand nicht immer, aber immer wieder eine Eskalation verhindern konnte. Viele würden die Pandemie nun wohl am liebsten vergessen, doch das ist aus mehreren Gründen keine optimale Idee.
Denn noch sind nicht alle Folgen bewältigt. Dazu gehört Long Covid, die schweren Nachwirkungen einer Erkrankung, über die man noch vieles nicht weiss. Dazu gehört die Übersterblichkeit im massnahmenfreien Jahr 2022. Covid-19 wird dabei eine Rolle gespielt haben, weil vor allem ältere Menschen durch eine Infektion geschwächt wurden.
Allerdings hat das Ende der Schutzmassnahmen auch zu einem «Comeback» anderer Viren wie Influenza und RSV geführt. Die Lage in den Spitälern war und ist teilweise angespannt, verschärft durch eine regelrechte «Fluchtbewegung» des Pflegepersonals. Es wäre interessant zu wissen, welche Rolle der Stress während der Pandemie dabei spielt.
«Wir haben viel gelernt, aber wir wissen längst noch nicht alles», sagte Bundespräsident Ignazio Cassis, als die schrittweise Rückkehr zur Normalität vor einem Jahr angekündigt wurde. Dieser Befund gilt noch heute. Es wäre wünschenswert, wenn die Politik die Bewältigung der Pandemie und nicht zuletzt die Versäumnisse im Vorfeld abklären würde.
Viele Rückblicke im Moment, bei denen man aber nicht vergessen darf, warum wir jetzt in dieser Situation sind: Weil schnell effektive Impfstoffe verfügbar. Keine Selbstverständlichkeit. Bei der nächsten Pandemie vielleicht nicht der Fall. Und: Maßnahmen haben viele Leben gerettet
— Isabella Eckerle (@EckerleIsabella) February 1, 2023
Das Parlament sollte sich nicht nur um die Untersuchung der Corona-Leaks aus dem Departement Berset kümmern. Eine umfassende Aufarbeitung des Vorgehens von Bund und Kantonen drängt sich auf, nicht zuletzt, um das nächste Mal besser gerüstet zu sein, wenn neue gefährliche Erreger auftauchen. Denn das werden sie bestimmt.
«Die wichtigsten Entscheidungen im Kampf gegen die nächste Pandemie werden jetzt getroffen (oder eben nicht)», schrieb Virologin Isabella Eckerle auf Twitter. Es fragt sich, ob der Wille vorhanden ist. Oder ob auch die Politik die Pandemie einfach vergessen will.