Ein Sommernachmittag beim Schuh- und Schlüsseldienst Mister Minit in Zürich: Der Schuhmacher ist völlig aufgelöst, als er das Telefon aufhängt. Der Kundin an der Theke erklärt der Handwerker hastig, sein Vorgesetzter rufe ihn mehrmals pro Tag an, um ihm zu sagen, er solle schneller arbeiten und nicht so lang mit der Kundschaft sprechen. Der Filialleiter verfolge jeden seiner Arbeitsschritte über die Überwachungskamera.
Ein Augenschein in weiteren Zürcher Mister-Minit-Filialen zeigt: Auch dort beklagen sich die Mitarbeiter über die Big-Brother-Methode. Als die Journalistin mit dem Angestellten Danielo* sprechen will, schiebt er sie sofort in eine Ecke des Geschäfts, die ausserhalb des Aufnahmebereichs der Kamera ist. Er befürchtet, dass der Chef anruft und nach dem Grund des Gesprächs fragt.
Danielo* erzählt, sein Chef greife auch sofort zum Telefon und übe Druck auf ihn aus, wenn er auf den Videoaufnahmen sehe, dass er eine Arbeit nicht auf Anhieb lösen könne. «Oder wenn er sieht, dass mehr als nur ein Kunde wartet. Dann muss ich ihm jeweils erklären, warum es nicht schneller ging.»
Marc*, der in einer anderen Zürcher Filiale tätig ist, erzählt Ähnliches: «Es ist schlimm. Wir stehen konstant unter Druck, weil wir nie wissen, ob der Chef uns gerade beobachtet. Das zeigt die Kamera ja nicht an.» Der Filialleiter rufe auch ihn sofort an, wenn er auf den Aufnahmen etwas sehe, das ihm nicht passe. «Dann fragt er zum Beispiel: Warum musstest du so lange mit diesem Kunden sprechen?»
Die befragten Angestellten wollen anonym bleiben. Sie fürchten, ihren Job zu verlieren, sollte ihr Chef erfahren, dass sie mit einer Journalistin gesprochen haben. Die Männer sagen, sie hätten in ihrem Arbeitsvertrag eine Klausel unterschrieben, in der sie sich mit der Überwachungskamera einverstanden erklärten. Nur hätten sie damals gedacht, dass dies zu Sicherheitszwecken sei und nicht, dass die Kamera auch sie überwachen sollte.
Seitens der Geschäftsstelle des Schuh- und Schlüsseldienstes heisst es, eine Kamera gebe es in den Filialen aus Gründen des Diebstahlschutzes. Dominik Steiner, Assistent Managing Director, bestreitet, dass die Angestellten damit überwacht werden: «Die Videos werden nur in Verdachtsfällen von einer zuständigen Person in der Zentrale besichtigt.» Rückfragen dazu möchte er nicht beantworten. Auch möchte er keinen Kontakt zum verantwortlichen Filialleiter herstellen. Ob dieser ein Angestellter des Unternehmens ist oder in einem Franchiseverhältnis steht, bleibt ebenfalls unbeantwortet.
Thomas Geiser, Professor für Privatrecht an der Universität St.Gallen sagt, grundsätzlich sei es nicht verboten, den Arbeitsplatz per Videokamera zu überwachen. Sobald es sicherheitsrelevante Argumente gebe, sei eine Kamera am Arbeitsplatz rechtlich legitim. In Banken beispielsweise würden die Schalter videoüberwacht. Aber die Angestellten haben immer die Möglichkeit, sich in einen nicht überwachten Bereich zurückzuziehen. «Bestimmungen wie der Datenschutz oder die Privatsphäre des Arbeitnehmers müssen eingehalten werden», sagt er.
Den geschilderten Fall von Mister Minit findet Geiser sehr heikel. Dass der Laden per Kamera überwacht werde, sei zwar grundsätzlich nachvollziehbar. Schliesslich sei der Angestellte allein im Büro und es befinde sich eine Kasse auf dem Tisch. Dass sich aber der Arbeitgeber per Telefon meldet, wenn sich der Angestellte in den nicht überwachten Bereich des Ladens begibt, sei problematisch. «Eine dauernde Verhaltensüberwachung ist nicht zulässig. Die Möglichkeit, sich zurückzuziehen, muss gegeben sein», sagt Geiser. Auch könne ein dauernd aufgesetzter Druck zu ernsthaften gesundheitlichen Schäden führen. Das sei nicht rechtmässig.
Empört über die Arbeitsbedingungen bei Mister Minit ist auch Ewald Ackermann vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund. «Wenn systematisch Druck auf den Angestellten ausgeübt wird, ist das nicht zulässig», sagt er. Arbeitgeber müssten ein Interesse daran haben, dass das Arbeitsklima gut sei. Dann sei nämlich auch die Produktivität höher. Dass der Arbeitgeber jedes Mal zum Telefon greift, wenn seiner Meinung nach nicht effizient genug gearbeitet wird, kann Ackermann nicht nachvollziehen: «Es gibt andere, bessere Wege, Kritik zu kommunizieren», sagt er.
Mister Minit ist nicht das einzige Unternehmen, das wegen Videoüberwachung am Arbeitsplatz für Schlagzeilen sorgte. Ein bekanntes Beispiel ist der Fall Migrolino. Die SRF-Sendung «Kassensturz» hatte im Juni aufgedeckt, dass ein Filialleiter der Migros-Tochtergesellschaft überall Überwachungskameras installieren liess; auf der Verkaufsfläche, im Lagerraum und in den Büroräumlichkeiten. Der Mann überwachte seine Angestellten anhand einer App von seinem Smartphone aus.
Ähnlich wie bei Mister Minit werden auch die Migrolino-Shops im Franchise-System geführt. Das heisst, dass der jeweilige Filialleiter das Geschäft auf eigene Rechnung betreibt und eigene Arbeitsverträge ausstellt. Deshalb ist man von Seiten Gewerkschaft bestrebt, Gesamtarbeitsverträge für Tankstellenshops zu etablieren. Das würde die Arbeitsbedingungen von Migrolino-Angestellten verbessern.
Ob eine Klage gegen den Arbeitgeber in einem Fall durchkäme, ist laut Arbeitsrechtler Geiser unklar. Zudem hegt er Zweifel, ob sie zum gewünschten Ziel führen würde. Das Arbeitsklima sei nach einem Gerichtsprozess oft vergiftet. Geiser rät, das Gespräch mit dem Chef zu suchen. Ist dieser uneinsichtig, kann sich der Arbeitnehmer weigern, unter dieser Kontrolle eine Leistung zu erbringen. Weiter kann auch das Arbeitsinspektorat verständigt werden.
*Namen der Redaktion bekannt.