Im Unterschied zu seinen Bundesratskollegen fehlt Alain Bersets Büro die Sicht auf die Aare, den Gurten und die Alpen. Vis-à-vis wird gebaut. Der Kulturminister hat das Entree sowie Sitzungs- und Besprechungszimmer des Verwaltungsgebäudes mit Kunst geschmückt. Er empfängt in einem davon zum Gespräch und trinkt einen Espresso.
Herr Bundesrat, wenn es vor zwanzig Jahren ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) gegeben hätte, hätten Sie Politik und Wirtschaft studiert oder wären Sie Ihrer musischen Seite gefolgt und Pianist geworden?
Alain Berset: Hätte ich mehr Talent, dann wäre ich vielleicht ohne Grundeinkommen Pianist geworden.
Das ist eine Ausrede!
Einigen Menschen könnte ein Grundeinkommen neue Entwicklungswege öffnen. Es stellt sich aber eine praktische Frage: Wie wäre das Grundeinkommen umzusetzen? Die Initiative gibt darauf keine Antwort.
Vorausgesetzt, das BGE wäre umgesetzt, würden Sie dann arbeiten oder sich in die Hängematte legen?
Ich würde trotzdem arbeiten. Als Bundesrat führt man nicht das ruhigste Leben, aber es ist eine sehr befriedigende Aufgabe. Später werde ich gerne auch etwas anderes tun.
Wie haben Sie Ihr erstes Geld verdient?
Als Jugendlicher arbeitete ich jeweils im Sommer für meine Heimatgemeinde Belfaux. Das waren einfache Jobs, wie Rasen mähen oder das Schulhausreinigen.
Die Automatisierung ersetzt zunehmend einfachere Arbeiten. Wie sollen Personen, deren Stellen zunehmend wegrationalisiert werden, künftig ihr Geld verdienen?
Die industriellen Revolutionen haben unsere Gesellschaft tief verändert. Der technische Fortschritt hat seit der Erfindung der Dampfmaschine mehr Arbeitsplätze entstehen lassen als zerstört. Früher haben die meisten Menschen auf dem Acker gearbeitet, nur wenige in der Industrie. Innert kurzer Zeit hat sich das umgekehrt. Die Fliessbandarbeit oder die Informatik haben die Arbeitswelt weiter revolutioniert, der Dienstleistungssektor hat massiv an Bedeutung gewonnen. Unsere Gesellschaft hat sich in der Vergangenheit immer anpassen können und wird dies auch in Zukunft tun.
Wäre es nicht mutiger, vorausblickend etwas zu wagen und ein Grundeinkommen einzuführen?
Wo stünden wir heute, wenn wir bei den industriellen Revolutionen gesagt hätten: Lasst uns nicht mehr arbeiten? Hätten wir den heutigen, verbreiteten Wohlstand und Entwicklungsmöglichkeiten? Die Debatte über die Gesellschaft, über Solidarität und den Wert der Arbeit ist interessant.
Am Ende geht es aber nicht um philosophische Fragen, sondern darum, wie wir konkret unsere Verfassungsziele erreichen. Wir können gerne über Lücken im heutigen System diskutieren. Es wäre jedoch abenteuerlich und unverantwortlich zu sagen: Ändern wir alles und lassen wir uns überraschen, wie es herauskommt. Wir dürfen unser gutes Sozialsystem nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Es wirkt gezielt und sichert ein Leben in Würde.
Die Initianten lassen Bundesrat und Parlament einen Spielraum, um das BGE umzusetzen. Ziehen Sie Durchsetzungsinitiativen vor, bei welchen eine Verfassungsänderung als fixfertiges Gesetz daherkommt?
Ich finde beides unglücklich: Initiativen, die sämtlichen Spielraum weglassen, und solche, die allzu offen formuliert sind. Eine konkrete Idee fehlt, wie das BGE umzusetzen ist. Schon bei den Grundfragen unterscheiden sich die Vorstellungen der Befürworter. Wir sind kein Labor für Experimente. Wir sind ein offenes Land mit acht Millionen Einwohnern, 300'000 Grenzgängern pro Tag und Teil einer weltweiten Mobilität. Da stellen sich schwierige Fragen: Würden nur diejenigen davon profitieren, die in der Schweiz leben? Was ein Grundeinkommen bewirken würde, ist in wesentlichen Punkten nicht abschätzbar.
Gerade in Ihrer Partei geniesst die Vorlage Sympathien.
Die SP hat klar die Nein-Parole beschlossen.
Trotzdem würde das BGE das komplexe System der Sozialversicherungen vereinfachen.
Nur teilweise. Gleichzeitig würde es neue Komplikationen verursachen. Insgesamt ist diese Hoffnung unrealistisch.
Wieso?
Gehen wir von 2500 Franken BGE pro Monat aus, wie es die Initianten vorschlagen. Damit lassen sich die Folgen eines Unfalls oder einer schweren Krankheit nicht bezahlen. Die soziale Sicherheit deckt Kosten, die für eine Person alleine Zehntausende Franken pro Jahr betragen können. Das BGE könnte nur einen Teil der finanziellen Leistungen ersetzen, die anderen ohnehin nicht. Das heisst, es bräuchte weiterhin Kranken-, Unfall- und Invalidenversicherung, ebenso eine Altersvorsorge, die über ein Minimum hinausgeht. Nötig wären auch weiterhin Betreuungsangebote, Massnahmen zur beruflichen Eingliederung. Wir dürfen nicht vergessen: Die Arbeit spielt eine wichtige integrative Rolle in unsere Gesellschaft.
Aber es wäre gerecht. Jeder hätte gleich viele Mittel zur Verfügung.
Das ist falsch. Es würden nicht alle 2500 Franken mehr erhalten. Verdient jemand 4000 Franken, würden ihm 2500 Franken vom Lohn abgezogen und als Grundeinkommen wieder ausbezahlt. Ein Nullsummenspiel. Die meisten Haushalte hätten unter dem Strich gleich viel Geld wie heute. Mehr oder weniger profitieren würden Leute ohne oder mit geringem Lohn von unter 2500 Franken.
Lehnen Sie das BGE grundsätzlich ab oder unterstützen Sie Pilotprojekte wie in Lausanne, wo Sozialhilfebezüger ein BGE erhalten?
Für mich sind Projekte wie in Lausanne der richtige Weg, um die Idee des BGE in der Realität, in kleinem Massstab, zu testen und Erfahrungen zu sammeln.
Themenwechsel. Im Juni stimmt das Volk über das neue Fortpflanzungsmedizingesetz ab: Werden in der Schweiz bald Gentech-Menschen produziert?
Nein. Diese Gefahr besteht nicht. Die Frage, die wir beantworten müssen, ist eine andere: Wie will die Schweiz mit Präimplantationsdiagnostik (PID) umgehen? Alle Länder um uns herum erlauben die genetische Untersuchung von Embryos. Die Technik ist erprobt und verbreitet. Der Bundesrat schlägt vor, das bestehende Verbot etwas zu lockern. Denn es gibt Paare, die Träger einer schweren Erbkrankheit sind und diese nicht an ihre Kinder weitervererben wollen. Dank den Tests kann man sicherstellen, dass der Embryo diese Krankheit nicht trägt.
Nun hat das Parlament das Gesetz erweitert. Zu Recht?
Der Bundesrat hat einen sehr restriktiven Vorschlag gemacht. Das Parlament war der Meinung, nicht nur Paare mit schwerer Erbkrankheit dürften von der PID profitieren, sondern auch Paare, die auf natürlichem Weg keine Kinder bekommen können.
Wieso?
Weil bei den Embryos dieser Paare oft ein genetisches Problem besteht. Dank den Tests ist eine erfolgreiche Schwangerschaft eher möglich.
Das bedeutet aber auch, dass nicht nur fünfzig Paare, sondern mehrere hundert Paare Präimplantationsdiagnostik anwenden dürfen.
Sie können, wenn sie wollen. Die Tests sind freiwillig und auf eine relativ kleine Gruppe Betroffener begrenzt. Und auch für diese Gruppe sind die Tests nicht immer sinnvoll. Das Gesetz bleibt restriktiv. Strikt verboten ist etwa die Auswahl der Embryos aufgrund persönlicher Merkmale. Es ist beispielsweise nicht erlaubt, die Augenfarbe auszuwählen. Zum Glück! Das wäre inakzeptabel.
Bei diesen Tests kann man das Geschlecht trotzdem erkennen.
Aber die Auswahl nach Geschlecht ist illegal! Und das bleibt auch so, wenn wir die PID zulassen. Für deren Durchführung braucht es eine Bewilligung und es gibt unangemeldete Kontrollen. Zudem halten sich die Ärztinnen und Ärzte an die Gesetze. Das zeigen auch langjährige Erfahrungen aus dem Ausland, wo PID erlaubt ist.
Trotzdem hat kein Paar ein Recht auf ein gesundes Kind.
Damit bin ich völlig einverstanden. Es geht darum, Paaren zu helfen, die in einer schwierigen Situation sind. Wenn sich ein Paar ein Kind wünscht, einer der Partner aber eine schwere Erbkrankheit hat und diese nicht weitervererben möchte, mutet man ihnen ein «Kind auf Probe» zu. Man kann aber erst nach einigen Wochen Schwangerschaft feststellen, ob der Fötus Träger der Krankheit ist – und dann allenfalls die Schwangerschaft abbrechen. Eltern in diese Lage zu versetzen, halte ich für nicht richtig. Wenn wir früher Klarheit schaffen können, ist das nicht nur besser, sondern auch ehrlicher.
Ein Ausblick auf die Legislatur: Seit Oktober hat sich die Mehrheit in Parlament und Bundesrat nach rechts verschoben. Ihre Qualitätsstrategie, die Zulassung von Ärzten und das Tabakproduktegesetz scheiterten. Gefährden die neuen Mehrheiten Ihre Projekte?
Diese Projekte sind nicht meine Projekte, sondern jene des Bundesrats. Dieser war bereits in der vergangenen Legislatur bürgerlich. Jetzt ist ein neues Mitglied gewählt worden. Stark verändert hat sich die Politik deswegen nicht.
Und im Parlament?
Ja, das Parlament hat sich bewegt. Das ist normal: Die Mehrheiten ändern sich bei jeder Wahl. Es ist noch etwas früh, um Bilanz zu ziehen. Projekte, die zurück- oder abgewiesen wurden, wären wohl auch in der letzten Legislatur nicht durchgekommen: Weder die Qualitätsstrategie im Gesundheitswesen, noch das Tabakproduktegesetz. Andere Dossiers laufen wiederum gut, wie das Gesundheitsberufegesetz. Die Verlängerung der Zulassungssteuerung wurde zuletzt sehr deutlich angenommen …
… weil alle Angst vor den Kosten haben.
Ja. Aber das zeigt auch, dass es um politische Realitäten geht. Der Entscheid betrifft die Kosten, die Prämien, also direkt die Menschen in der Schweiz. Ich schätze das Engagement der Parlamentarier und arbeite gerne mit ihnen zusammen. Wir schaffen gute Lösungen.
Trotz persönlicher Angriffe einzelner Nationalräte?
Es gab immer wieder solche Vorkommnisse. Wichtig ist, dass wir respektvoll miteinander umgehen. Die Schweiz lebt als direkte Demokratie von einer Kultur der breiten und fairen Debatte. Dieser Kultur müssen wir Sorge tragen.
Würden Sie auch aus dem Nationalratssaal laufen, wenn Sie persönlich angegriffen würden?
Diese Frage lässt sich nicht theoretisch beantworten (trs/aargauerzeitung.ch)