Herr Levrat, steigen wir direkt ein: Wann treten Sie zurück?
Christian Levrat: Meine grösste Angst war immer, dass es mir in der Politik irgendwann langweilig wird. Davon bin ich weit entfernt. Die politische Situation hat sich radikal verändert. Das gibt mir einen zusätzlichen Motivationsschub (lacht).
Sie stehen auf verlorenem Posten.
Das sehe ich anders. Wir kommen aus vier Jahren, in denen wir viel erreicht haben. Die Beerdigung des Bankgeheimnisses, die Energiewende, eine stärkere Aufsicht über die Krankenkassen oder eine zeitgemässe Raumplanungspolitik. Das waren Siege gegen den Widerstand der Rechten ...
... jetzt wird das Rad zurückgedreht.
Mehr als das. Wir haben es mit einer Arroganz zu tun, die mich an 2003 erinnert. Auch damals fuhren die Bürgerlichen in dieser Härte ein. Mit der Versenkung des Steuerpakets und der AHV-Revision konnten wir sie allerdings stoppen. Die Bürgerlichen zogen daraus ihre Lehren und banden uns von da an in Entscheidungen ein. Davon ist jetzt nichts mehr zu spüren. Und daraus muss ich meine Lehren ziehen.
Was sind Ihre Lehren?
Die laufende Legislatur wird sich für uns ausserparlamentarisch abspielen. Wir müssen uns insbesondere dort gegen den Abbau von rechts wehren, wo es die Leute am meisten spüren. Die Wahlen 2019 werden zur Bilanz der rechten Regierung. Bis dahin wird die SP an ihrer Widerstandskraft gemessen. Gelingt es uns, den Übermut der Rechten zu stoppen, gewinnen wir die Wahlen. Scheitern wir, dreht das Land weiter nach rechts.
Das klingt, als würden Sie die SP in die Wahlen 2019 führen. Werden Sie?
Entscheidend sind zwei Fragen. Erstens: Habe ich Lust, Energie, Spass und den nötigen Biss für diesen Job? Ja, habe ich. Zweitens: Ist es das Richtige für die Partei? Das werden wir intern diskutieren.
Wird das gewünscht, treten Sie ab?
Ich war nach den Wahlen lange überzeugt, dass ich zurücktreten werde. Jetzt ist es offen. Die Frage ist, ob in der jetzigen Situation ein Wechsel an der SP-Spitze klug ist.
Sie sprechen die Machtlosigkeit der SP im Parlament an?
Die Rechten brauchen drei Mehrheiten für ihr Abbau-Programm. Erstens die Mehrheit in der Regierung – die haben sie. Zweitens die Mehrheit im Parlament – die haben SVP und FDP faktisch auch. Die CVP hat in ihrer DNA, dass sie nicht zur Minderheit gehören will. Drittens: die Mehrheit im Volk. Diese wird die Rechte nicht gewinnen.
Sie haben vor dem Rechtsrutsch gewarnt. Sind Sie trotzdem überrascht?
Mich überrascht die Schamlosigkeit.
Juso-Chef Fabian Molina sagt, die nächsten vier Jahre seien für die SP verloren. Hat er recht?
Im Parlament ja. Es gibt seit Anfang Jahr keine Kommissionssitzung, die nicht mit Steuergeschenken oder höheren Ausgaben für Privilegierte endet. Die Strategie ist klar: Die Bundeskasse wird geleert, damit man sich auf die Schuldenbremse berufen und Leistungen kürzen kann – bei Bildung, Sozialem, Entwicklungshilfe. Für uns kann es darauf nur eine Reaktion geben: Widerstand. Wir werden schampar unbequem.
Sie zitieren Helmut Hubacher, einen Ihrer Vorgänger und Kritiker Ihres Kurses. Kann die SP nach vier bequemen Jahren noch unbequem sein?
Wir waren nicht bequem! Wo wir Mehrheiten erreichen konnten, haben wir das Maximum herausgeholt. Jetzt hat sich die Situation verändert, und die Partei ist bereit.
Ist sie das? Hat die SP in letzter Zeit nicht alle ihre Initiativen verloren?
Das wurde uns als Schwäche ausgelegt. Wir haben damit jedoch unsere Mobilisierungskraft gestärkt. Jetzt ist die Basis gelegt für einen harten Oppositionskurs.
Ist auch die Fraktion bereit?
Wir haben gerade den Kommandoüberfall von rechts bei der CVP- und FDP-Präsidiumswahl erlebt. Das haben vielleicht noch nicht alle in der Fraktion realisiert. Als am Abend der Wahlen klar wurde, dass wir Eveline Widmer-Schlumpf nicht im Bundesrat halten können, wusste ich sofort: Die Bürgerlichen werden sich zusammenschliessen und uns im Parlament isolieren.
Sie gelten im Parlament als ausgezeichneter Taktiker. Jetzt wird ein Oppositionsführer gesucht. Sind Sie dafür noch der Richtige?
Als ich Präsident wurde, hiess es, ich sei zu aktivistisch. Jetzt heisst es, ich sei zu stark auf das Parlament fixiert. Richtig ist: Ein guter Präsident kann beides und passt seine Rolle den Umständen an.
Muss sich die SP neu erfinden?
Nein. Nur die Illusion aufgeben, dass wir in dieser Legislatur im Parlament noch etwas für die Bevölkerung erreichen. Stattdessen müssen wir die Machtfrage mit den Bürgerlichen klug, diszipliniert und möglichst rasch an der Urne klären. Dass wir gegen längere Ladenöffnungszeiten und die Unternehmenssteuerreform III das Referendum führen, ist klar. Und schon jetzt ist absehbar, dass wir auch das Rentenalter 67 werden bekämpfen müssen.
Man merke gar nicht mehr, dass Eveline Widmer-Schlumpf je im Bundesrat war, sagt die SVP – nicht ohne Freude.
Das Erbe von Widmer-Schlumpf wurde innert Kürze vernichtet. Sie hinterliess in der Bundeskasse einen Puffer von 2 Milliarden. Diese Milliarden sind längstens weg. Steuergeschenke für reiche Grundstückbesitzer und Grosskonzerne, höhere Ausgaben für Armee, Strassen, Landwirtschaft – die Rechte begünstigt ihre Klientel. In der Wirtschaftskommission wurde in nur einer Viertelstunde die Abschaffung der Stempelsteuern beschlossen. Kosten: 2,3 Milliarden. Ein Raubzug auf die Bundeskasse!
Was haben Sie dem entgegenzusetzen?
Die Partei ist beweglicher, aktivierter und breiter denn je aufgestellt. Was in den letzten Wochen gelaufen ist, sollte jedem zeigen, dass der Film gewechselt hat.
Was zeigt der neue Film?
Wir sind gezwungen, sehr konkret Widerstand zu leisten. Die grossen Projekte müssen vors Volk. Es gibt wenig Raum für Nebenschauplätze.
Was sind Nebenschauplätze?
Das Büpf-Referendum. Wir werden auch wenig Zeit haben für eigene Projekte.
Brauchen Sie nicht neue Ideen? Die Bündner SP-Hoffnung Jon Pult kritisiert, der SP fehlten grosse Themen.
Einige in der Partei plädieren dafür, ständig zu wiederholen, dass wir für den EU-Beitritt sind. Die Gefahr dabei ist, dass wir bei den realen europapolitischen Fragen nicht mehr ernst genommen werden, weil wir als EU-Turbos dargestellt werden.
Ihren Vorschlag für einen EWR 2.0 fand die SP-Basis wenig berauschend.
Vielleicht waren wir etwas zu schnell mit dieser Idee. Und wir haben die Debattierfreudigkeit der Basis unterschätzt. Ich hatte nicht erwartet, dass EU-Turbos und -Skeptiker zusammenspannen. Wäre es nicht die SP, müsste ich von unheiliger Allianz sprechen (lacht). Aber wir brauchen eine stabile Europapolitik. Dafür ist der EWR 2.0 der richtige Rahmen.
Warum?
Weil nur ein multilaterales Abkommen verhindert, dass jeder einzelne der 120 bilateralen Verträge der Schweiz mit der EU von rechts angegriffen werden kann.
Nicht nur um die EU steht es schlecht, auch um die Sozialdemokratie in Europa. Gibt es da einen Zusammenhang?
Ich mache mir grosse Sorgen um das politische Umfeld in Europa. Die Nerven in Brüssel liegen blank, die Brexit-Abstimmung blockiert alles. In Deutschland und Österreich haben nicht nur die Sozialdemokraten verloren, sondern auch die Konservativen. In Frankreich wird Marine Le Pen mit Sicherheit in den zweiten Präsidentschaftswahlgang kommen. Das sind ungesunde Entwicklungen.
Wie analysieren Sie die Entwicklung?
Das Versagen der EU in der Finanz- und Flüchtlingskrise kritisieren wir stark. Aber die Sozialdemokratie ist vielerorts in die Regierung eingebunden. Dafür zahlt sie einen hohen Preis. Das gibt den Rechten Auftrieb.
Ist mit der Ernüchterung über die EU eine wichtige Klammer der SP abhandengekommen?
Die EU hat sich schlecht entwickelt, die Braut ist tatsächlich nicht mehr so schön. Da ist es logisch, dass die Unterstützung nachgelassen hat. Was nichts daran ändert, dass wir mit der FDP und CVP die Europapolitik gestalten wollen, wenn sie begriffen haben, dass es mit der SVP nicht geht.
Weshalb wird das nicht gehen?
Die Illusionen sind zu gross. Spätestens wenn klar wird, dass die EU darauf besteht, dass der Inländervorrang nur in einem gemischten Ausschuss und nicht von der Schweiz allein beschlossen werden kann, wird die SVP aus der Allianz aussteigen.
Auch Migration und Asyl sind grosse Themen. Gilt in Ihrer Partei noch immer: Lieber nicht darüber reden?
Es ist eine Legende, dass wir das Thema in den Wahlen 2015 kleingehalten haben. Wir haben als einzige Linke in Europa unsere Wählerstärke halten können, auch mit einer klaren Haltung in der Migrationspolitik. Schauen Sie, was gerade in Österreich passiert. Die etablierten Parteien betreiben eine populistische Flüchtlingspolitik. Das konnten wir in der Schweiz verhindern. Das ist eine Leistung. Ausserdem werden wir im Asyldossier jetzt hoffentlich einen Sieg gegen die SVP erringen.
In der Asylgesetz-Abstimmung?
Zum ersten Mal seit 20 Jahren wird eine Asylgesetzrevision mit und nicht gegen uns Linke gemacht. Das ist das Verdienst von Simonetta Sommaruga, das nicht kleingeredet werden darf.