Die Zeiten ändern sich. Im März 2013 zog Oskar Freysinger triumphal in die Walliser Kantonsregierung ein. Der SVP-Provokateur erreichte im ersten und zweiten Wahlgang das mit Abstand beste Ergebnis aller Kandidierenden und festigte für viele Auswärtige das Image der Walliser als reaktionärer Menschenschlag, dem Recht und Regeln egal sind.
Am Sonntag zeigte sich ein ganz anderes Bild: Statt sich in den Strassen von Sitten feiern zu lassen, musste der sichtlich niedergeschlagene Freysinger seine Schlappe erklären. Im ersten Wahlgang landete er nur auf Platz sechs, womit er abgewählt wäre. Verloren ist nichts, wegen des speziellen Walliser Systems ist noch niemand durch. Aber sein Sitz wackelt bedenklich.
Angesichts der drohenden Niederlage zeigte sich der «Pissoir-Poet» von seiner wehleidigen Seite. «Der Hass war unglaublich gross», kommentierte Freysinger die von seinen Gegnern geführte Kampagne. Dies allerdings hat er sich selber zuzuschreiben, mit seiner umstrittenen Amtsführung als kantonaler Erziehungsdirektor und nicht zuletzt mit dem eigenen, aggressiven Wahlkampf.
In der «Üsserschwiiz», wie die (Ober-)Walliser den Rest des Landes bezeichnen, reiben sich dennoch viele die Augen. In den medialen Vorschauen galt Freysingers Wiederwahl als Formsache. Den Vogel abgeschossen hat die «NZZ am Sonntag» mit der Behauptung, die Walliser würden den SVP-Staatsrat trotz seiner Affären «mit einem Glanzresultat» bestätigen.
Solche Einschätzungen sind ein Abbild der Vorurteile gegenüber einem Menschenschlag, der hinter den sieben Bergen lebt und einen Dialekt spricht, den man in seiner reinen Form (nicht in der verwässerten von Rainer Maria Salzgeber) kaum versteht. Die Walliser gelten als dickschädelige Eigenbrötler. Beispiele gibt es genügend, neben Freysinger etwa Sepp Blatter, Pascal Couchepin oder Christian Constantin.
Im Wallis werden Wölfe und andere geschützte Tiere abgeknallt, Bergbahnen und sonstige Bauten ohne Bewilligung in die Landschaft gepflanzt oder bizarre Affären wie jene um den Weinhändler Dominique Giroud kultiviert. Leukerbad wurde als erste Schweizer Gemeinde unter Zwangsverwaltung gestellt, weil die Dorfoberen Prunkbauten errichtet, die dadurch entstandene massive Verschuldung vertuscht und in die eigene Tasche gewirtschaftet hatten.
Das Wallis ist eine eigene Welt, aber auch sie ist im 21. Jahrhundert angelangt. Die katholische Kirche mag mächtiger sein als in der übrigen Schweiz, aber sie ist nicht mehr allmächtig wie in früheren Zeiten. Das zeigte sich im diesjährigen Wahlkampf, in dem Oskar Freysinger mit einer rechtsbürgerlichen Allianz und dem «wilden» CVP-Kandidaten Nicolas Voide versuchte, die Wahl des früheren CVP-Präsidenten Christophe Darbellay in die Kantonsregierung zu sabotieren.
Dabei zielte das Rechtsbündnis auf Darbellays vermeintlich grösste Schwachstelle. Im letzten Herbst war bekannt geworden, dass der dreifache Vater ein uneheliches Kind gezeugt hatte. Vor nicht allzu langer Zeit wäre dies im Wallis einem politischen Todesurteil gleichgekommen. Darauf spekulierten auch Freysinger und Co. Schliesslich tauchte sogar Roger Köppel im Wallis auf und trumpte im Regionalfernsehen, da würden «noch immer irgendwelche Kinder hervorkommen».
Freysinger distanzierte sich halbherzig. Sein Abschussversuch wurde zum Rohrkrepierer. Das Walliser Stimmvolk bescherte dem «Sünder» Darbellay das beste Ergebnis aller Kandidierenden. Hinter ihm folgten die beiden anderen Kandidaten von CVP und CSP, während Sprengkandidat Nicolas Voide unter ferner liefen landete. «Die C-Parteien rückten enger zusammen und standen wie eine Mauer so hoch wie jene der Grande Dixence hinter ihrer offiziellen Liste», schrieb der «Wallliser Bote».
Auch Oskar Freysinger selbst geriet unter Beschuss. Mit umstrittenen Personalentscheiden, der Reichskriegsflagge im Keller und den Flirts mit Rechtsradikalen in Europa hatte er sich einige Fehltritte zu viel geleistet. Hinzu kam eine polarisierende Kampagne. Symptomatisch war die Kundgebung, die der Lehrer Yannick Délitroz in Sitten im Alleingang organisiert hatte. Rund 1000 Personen nahmen teil, ein beachtlicher Aufmarsch in dem lang gezogenen und verzweigten Kanton mit zwei Sprachregionen.
«Die C-Wähler haben Christophe Darbellay seinen Seitensprung verziehen, Freysinger dessen politische Ausreisser hingegen nicht», kommentierte der «Walliser Bote». Besonders bitter für die SVP: Auf den Plätzen vier und fünf rangieren gleich zwei Sozialdemokraten, die bisherige Staatsrätin Esther Waeber-Kalbermatten und der frühere Nationalratspräsident Stéphane Rossini. Seine Kandidatur war intern umstritten, nun winken der SP zwei Sitze in der Kantonsregierung.
Dies wäre die eigentliche Sensation, denn für die Linke war das Wallis lange eine politische Wüste. In keinem grösseren Schweizer Kanton mussten sie länger auf den Einzug in die Regierung warten. Erst vor 20 Jahren konnte «Übervater» Peter Bodenmann nach mehreren vergeblichen Anläufen den Bann brechen. Der heutige Hotelier hatte sich für das Zweierticket stark gemacht. Noch ist nichts entschieden, aber die Chancen für den historischen Erfolg sind intakt.
Mindestens so bemerkenswert ist der Vormarsch der Grünen im Parlament, wo sie gleich sechs Sitze hinzugewannen. Hauptgrund ist ein neues Wahlsystem, dennoch verblüfft dieser «Erdrutsch» in einem Kanton, in dem die Devise «Nur ein toter Wolf ist ein guter Wolf» zu gelten scheint. Und wo der Kampf gegen die Zweitwohnungsinitiative und das revidierte Raumplanungsgesetz so heftig geführt wurde wie sonst nirgends.
Das Wallis ist eine spezielle Welt. Es kann sein, dass Oskar Freysinger die Wiederwahl am 19. März schafft. Dennoch steht spätestens seit diesem Sonntag fest, dass das Wallis vielleicht hinter den sieben Bergen liegt – aber nicht hinter dem Mond.