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Panikorchester Bundesrat: Die Schweiz ist machtlos gegenüber der EU

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Hilflose Symbolpolitik: Doris Leuthard bei ihrem Statement zur EU.Bild: EPA/KEYSTONE
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Panikorchester Bundesrat: Die Schweiz ist machtlos gegenüber der EU

Mit markigen Worten kritisierte Bundespräsidentin Doris Leuthard das Powerplay der EU-Kommission bei der Börsenregulierung. Substanziell aber hatte sie wenig zu bieten. Kein Wunder: Die EU sitzt in jeder Beziehung am längeren Hebel.
21.12.2017, 15:0822.12.2017, 07:14
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Doris Leuthard ist sauer. Ihr Statement vor den Medien am Donnerstagmittag liess an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Die auf ein Jahr befristete Anerkennung der Börsenregulierung durch die EU-Kommission sei «eine klare Diskriminierung der Schweiz», die Verbindung mit den institutionellen Fragen «inakzeptabel» und «sachfremd», sagte die Bundespräsidentin.

Der Bundesrat habe «Zweifel an der Rechtmässigkeit dieses Entscheids», hielt Leuthard fest. Zuvor hatte sich die Landesregierung an einer zweistündigen «Krisensitzung» über den Beschluss der EU-Kommission vom Vortag unterhalten, die Gleichwertigkeit der Schweizer Börsenregulierung nur bis Ende 2018 anzuerkennen und mit Fortschritten beim Rahmenabkommen zu verknüpfen.

Brüssel hat Bern damit auf dem falschen Fuss erwischt. Der Bundesrat gebärdet sich deshalb als Panikorchester. Man spuckt laute Töne, aber die Substanz lässt zu wünschen übrig. Dies zeigen die von Leuthard angekündigten «Gegenmassnahmen». Der Bundesrat wolle den Schweizer Finanzplatz stärken. Im Vordergrund stehe die Abschaffung der Stempelabgabe.

Wiedergänger Stempelabgabe

Dabei handelt es sich um eine Art Wiedergänger der Schweizer Politik. Seit Jahrzehnten taucht sie immer wieder auf. Konkret umgesetzt wurde sie nie, denn die Abschaffung ist mit hohen Einnahmeausfällen verbunden. Es drängt sich ein ähnlicher Verdacht auf wie bei Donald Trumps Steuerreform: Die Massnahme würde der Schweiz am Ende mehr schaden als nützen.

Vollends im Ungefähren verlor sich die Bundespräsidentin mit der Ankündigung, der Bundesrat behalte sich vor, die Arbeiten an der Vernehmlassungsvorlage zur Kohäsionsmilliarde «neu zu beurteilen». Offenbar konnte sich der Bundesrat nicht einmal dazu durchringen, dieses Geschäft «auf Eis zu legen», wie von bürgerlicher Seite in den letzten Tagen wiederholt gefordert wurde.

Schweiz kann nur verlieren

Das erstaunt die – wenigen – Leute nicht, die das Verhältnis der Schweiz zur EU nüchtern beurteilen. Bei einer Kraftprobe kann die Schweiz praktisch nur verlieren. Brüssel sitzt in jeder Beziehung am längeren Hebel und könnte allfällige Massnahmen der Schweiz spielend mit eigenen «Nadelstichen» kontern. Siehe die – mutwillige – Verzögerung bei der Aktualisierung des Abkommens über die technischen Handelshemmnisse.

European Commission President Jean-Claude Juncker speaks during a press conference during his official visit in Bern, Switzerland, Thursday, November 23, 2017. (KEYSTONE/Peter Klaunzer)
Jean-Claude Juncker bei seinem Besuch in Bern am 23. November.Bild: KEYSTONE

Dabei kann man Doris Leuthard verstehen. Beim Besuch von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in Bern vor einem Monat sah es so aus, als hätte sich das seit dem Ja zur Masseineinwanderungsinitiative eingetrübte Verhältnis entspannt. Die CVP-Bundesrätin schien ihr Präsidialjahr mit einem Erfolg im wichtigen Europadossier beenden zu können.

Unzufriedene Mitgliedsstaaten

Umso härter trifft sie nun das neue Powerplay aus Brüssel. Beobachter in der EU-Metropole sind darüber nicht erstaunt. Aus Sicht von Juncker sei das Treffen in Bern keineswegs so erfolgreich verlaufen, wie es vom Bundesrat dargestellt wurde. Der Luxemburger sei verärgert gewesen über die wenig konkreten Zusagen der Schweiz beim institutionellen Rahmenabkommen.

Er war damit nicht allein. «Mehrere Mitgliedstaaten waren sehr unzufrieden, dass es nach dem Treffen in Bern keinerlei Fortschritte beim institutionellen Abkommen gab», berichtet die «Aargauer Zeitung» mit Berufung auf eine gut unterrichtete Quelle in Brüssel. Folglich segneten 27 der 28 Mitgliedsstaaten die Befristung der Börsenäquivalenz ab. Nur Grossbritannien enthielt sich.

Signal an die Brexiteers

Dabei sei es weniger um die Schweiz als um den Brexit gegangen, sagte SRF-Korrespondent Sebastian Ramspeck in der Sendung «10vor10». Bei den Austrittsverhandlungen beginnt die zweite und heikelste Phase. Noch immer hängen viele Brexit-Anhänger in London der Illusion nach, das Königreich könne aus der EU austreten und trotzdem alle Vorzüge der Mitgliedschaft geniessen.

Die harte Haltung der EU-Kommission gegenüber der Schweiz ist ein Signal an diese «Brexiteers». Was auch die Brexit-Fans bei uns ernüchtern sollte. «Die Demütigung der Bundespräsidentin straft jene Stimmen Lügen, die glaubten, dass der Brexit die Verhandlungsposition der Schweiz stärken wird», kommentierte die «Handelszeitung» schonungslos. Das Gegenteil sei der Fall, die EU trete «noch kompromissloser gegenüber mutmasslichen Rosinenpickern auf».

Ansätze für ein Umdenken

Mit dieser Erkenntnis tun sich viele hierzulande schwer. Längst dominiert das SVP-Narrativ die Debatte zur EU in der Politik und in vielen Medien. Für die befristete Anerkennung der Börsenregulierung verwendeten Zeitungen Begriffe wie «Erpressung» und «Geiselnahme». Wen wundert es da, dass selbst der Bundesrat zu hilflosen Drohgebärden greift?

Ansätze zu einem Umdenken sind immerhin erkennbar. Der Inlandchef der NZZ, der sonst gerne auf die verbale Pauke haut, rückte in seinem Kommentar die Relationen zurecht: «Es ist in erster Linie die Schweiz, die in ihrem ureigenen Interesse gedeihliche und vor allem einträgliche Beziehungen mit der EU möchte.» Der Leiter der Bundeshausredaktion von «Tagesanzeiger» und «Bund» riet dem Bundesrat, nicht vorschnell «den dicken Max» zu spielen.

Cassis ist gefordert

Genützt hat es wenig. Dabei wäre genau dies notwendig. Statt zweifelhafte Massnahmen anzukündigen, sollte die Landesregierung der Nation reinen Wein einschenken. Die Schweiz will weder dem EWR noch der EU beitreten und trotzdem von den Vorzügen des gemeinsamen Marktes profitieren. Folglich muss sie zu einem gewissen Grad nach der Pfeife der EU tanzen.

Das bedeutet auch, dass sie das ungeliebte Rahmenabkommen nicht länger auf die lange Bank schieben kann. Gefordert ist der neue Aussenminister Ignazio Cassis. Statt irgendwelche Reset-Knöpfe zu suchen, sollte er resolut das Heft in die Hand nehmen. Auch auf die Gefahr, dass er die SVP verärgert, der er seine Wahl in den Bundesrat zu einem grossen Teil verdankt.

Ignazo Cassis: Der neue Bundesrat

Video: srf
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169 Kommentare
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raues Endoplasmatisches Retikulum
21.12.2017 15:25registriert Juli 2017
1) (Achtung, könnte Polemik enthalten!)
Vielleicht sollten wir der EU beitreten und uns einfach dort nicht an die Regeln halten. Die Schweiz ist auf der Grauen Liste der Steueroasen, gleichzeiti bezahlt man in Irland, den Niederlanden und Luxemburg praktisch keine Steuern, aber die EU kann Mitgliedstaaten nicht auf die Liste setzten. Schengen-Dublin wurde einfach abgesägt, die Umverteilung von Flüchtlingen wurde zwar abgemacht, es kümmert sich auch niemand drum.
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flying kid
21.12.2017 15:22registriert August 2017
Die Schweiz ist bei weitem nicht machtlos gegenüber der EU.
Man könnte einfach mal anfangen nicht jedes EU-Recht als erstes zu übernehmen, analog den EU-Staten. Auch könnte man mal auf die Einhaltung alles Verträge pochen. Schengen/Dublin zum Beispiel. Oder Maut für die Durchfahrt der Schweiz, etc.
Und jede weitere Zahlung ist sowieso einzustellen, solange nicht MITeinander vernünftig diskutiert werden kann...
Die Schweiz ist weit EU-konformer als einige Mitgliedsstaten.

Etwas Druck von unserer Seite wird nicht schaden!
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reaper54
21.12.2017 15:17registriert März 2015
Watson den Artikel könnt ihr ausdrucken und ihn dann auf eurer Toilette verwenden.
Mit dieser Argumentation hätte man sich im 2. Weltkrieg auch den Nazis anschliessen müssen.
Die Schweiz müsste mal anfangen richtig zu verhandeln und keine EU liebhaber zu den Verhandlungen schicken, dann wären die Resultate auch anders.
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