Die Videos gelangten an die Redaktion des Medienunternehmens CH Media und an 20 Minuten. Weitergegeben haben sie Andreas Dummermuth, Präsident der Konferenz der kantonalen Ausgleichskassen (KKAK), beziehungsweise eine nicht genannte Mitgliedsfirma des Schweizerischen Versicherungsverbands (SVV). Sie stammen von Sozialdetektiven und entstanden bei der Observation von später überführten Versicherungsbetrügern.
Wie ein Bericht von watson zeigte, haben Dummermuth und die unbekannte Versicherungsfirma möglicherweise gegen das Gesetz verstossen. «Die Weitergabe von Observationsvideos an Dritte ist nicht rechtens», hiess es beim Eidgenössischen Datenschutzbeauftragten. Eine Weitergabe der Aufnahmen oder eine Verwendung für einen anderen Zweck als zur Überprüfung des Versicherungsanspruchs der Observierten sei nicht zulässig.
Mit der Weitergabe der Videos an die Medien versuchen die Befürworter des neuen Sozialdetektive-Gesetzes, die Öffentlichkeit im Abstimmungskampf von einem Ja zu überzeugen. Derzeit ist es in der Schweiz verboten, solche Videoaufnahmen zu erstellen. Die von CH Media veröffentlichten Aufnahmen beispielsweise sind bereits sieben Jahre alt. Denn Mitte 2017 wurden die seit 2008 durchgeführten Observationen in der Schweiz gestoppt, weil laut Gerichten die notwendigen rechtlichen Grundlagen dafür fehlten. Mit der am 25. November zur Abstimmung kommenden Gesetzesrevision würde diese rechtliche Grundlage für Observationen geschaffen.
Der Aargauer SP-Nationalrat Cédric Wermuth will jetzt Antworten vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV), das für die Invalidenversicherung (IV) zuständig ist. Bei nächster Gelegenheit will er in der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrats (GPK-N) einen Antrag stellen, um Vertreter des BSV sowie Andreas Dummermuth vorzuladen und zu den Vorgängen zu befragen.
Die IV-Stellen seien zwar befugt, Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben, «aber die hier praktizierte Art und Weise ist inakzeptabel». Wermuth findet es «erschreckend», wie unbedarft man sich an den «höchsten Stellen von staatlichen Institutionen» über Bedenken bezüglich Persönlichkeits- und Datenschutz hinweggesetzt habe: «Ganz offensichtlich wurden die rechtlichen Grundlagen vor der Weitergabe an die Medien nicht sorgfältig abgeklärt.» Dieser Umgang mit Observationsmaterial zerstöre das Vertrauen in den Staat.
Auch SP-Nationalrätin Silvia Schenker war «empört», als sie von der Weitergabe von Observationsvideos durch Andreas Dummermuth erfuhr. Schenker ist Mitglied im Referendumskomitee gegen das neue Gesetz.
Natürlich dürfe Dummermuth als Vertreter der kantonalen Ausgleichskasse öffentlich seine Meinung äussern, sagt Schenker. Aber die Veröffentlichung von Videomaterial, das im Auftrag von IV-Stellen gesammelt worden sei, gehe zu weit: «Dummermuth greift damit in einer Art und Weise in den Abstimmungskampf ein, die schlicht und einfach nicht in Ordnung ist.»
Schenker reicht in der übernächste Woche beginnenden Wintersession Fragen zu den Leaks ein. «Ich will, dass der Bundesrat dazu Stellung nimmt.» Die Regierung müsse Auskunft darüber geben, ob es sich dabei um ein strafrechtlich relevantes Vorgehen handle.
Sowohl Wermuths als auch Schenkers angekündigte Schritte werden erst nach der Abstimmung am 25. November im Parlament behandelt. Umfragen deuten auf ein klares Ja zum neuen Sozialdetektive-Gesetz hin. Doch beide betonen, dass sich die aufgeworfenen Fragen auch bei einer Annahme der Vorlage nicht in Luft auflösten: «Kommt die Revision durch, werden IV-Stellen und andere Versicherer Überwachungen anordnen und so neues Observationsmaterial erhalten», sagt Schenker. Es sei wichtig, rechtzeitig klare Regeln über den Umgang damit zu schaffen. Denn die Abstimmung in zehn Tagen sei keinesfalls der letzte Urnengang zum Thema. «Der Weitergabe von Observationsmaterial an die Medien zwecks Abstimmungspropaganda müssen wir einen Riegel schieben.»