Die Streif ist anders als alle anderen Weltcup-Abfahrten. Gleich nach dem Start die Mutprobe namens Mausefalle. Beinahe überhängend, ein Gefälle von 85 Prozent an der steilsten Stelle. Bis zu 80 Meter weit springen die Abfahrer hier.
«Wer sich von den Neulingen getraut, am Start drei Mal mit den Stöcken anzugeben, dem zahle ich ein Bier», posaunt Routinier Daniel Mahrer im Januar 1996. Ein unbekannter Neuenburger namens Didier Cuche schluckt leer. «Ich zog es damals ernsthaft in Betracht, mit der Gondel ins Tal zu fahren. Doch irgendwann hatten mich die Trainer so weit, dass ich dann doch startete.»
«So weiss im Gesicht könnt ihr aber nicht an den Start, ihr müsst zuerst ins Solarium», tönt Mahrer weiter, als er die bleichen Gesichter der Nachwuchsfahrer sieht. 44. wird Cuche bei seiner ersten Trainingsfahrt auf der Streif. Im Ziel reisst er die Arme in die Höhe wie ein Sieger. Nur zwei Jahre nach der Premiere steht der gelernte Metzger tatsächlich zuoberst auf dem Podest. 1998 feiert Didier Cuche einen von insgesamt 19 Schweizer Siegen am Hahnenkamm von Kitzbühel.
Die weiteren Schweizer Abfahrtssieger in Kitzbühel sind Willi Forrer im Jahr 1962, Bernhard Perren (1953) und Walter Prager (1932).
Hinzu kommen total vier Siege in Slalom, Riesenslalom und Super-G; sechs Erfolge in der traditionsreichen Hahnenkamm-Kombination und vier Siege bei Damenrennen, die in Kitzbühel zwischen 1932 und 1961 ausgetragen wurden.
Didier Cuche musste 1997, ein Jahr nach seiner Kitzbühel-Premiere, verletzt auf einen Start verzichten. Mit einem doppelten Unterschenkelbruch stand er damals im Zielraum, schaute sich das Rennen an und dachte: «Das wär's, hier einmal zu gewinnen.»
Am 23. Januar 1998 ist es soweit. Aus dem Nichts gewinnt Didier Cuche sein erstes Weltcuprennen, nachdem er zuvor stets bloss hinterher fuhr.
Die Abfahrt fand damals auf einer verkürzten Strecke und in zwei Läufen statt. Im ersten Lauf stellte Cuche die Bestzeit auf. Danach ging er ins Hotel, wo er eine Suppe ass und sich ins Bett legte. «Plötzlich begann ich vom Siegen zu träumen», erzählte er nach der Siegerehrung. «Ich wurde nervös wie noch nie. Und dann wurde ich wütend auf all die Besserwisser und Plauderi, die sich nach der Lauberhorn-Schlappe wichtig gemacht haben. Denen wollte ich es zeigen.»
Cuche zeigte es ihnen. Er verteidigte die Führung aus dem ersten Lauf und gewann vor den drei Franzosen Nicolas Burtin, Jean-Luc Crétier und Adrien Duvillard. Tags darauf bestätigte er seine Leistung mit Rang 2 hinter Kristian Ghedina – die Liebe zur Streif war entdeckt.
Es sollte zehn Jahre dauern bis zu Cuches nächstem Triumph. Doch ab da war er der Chef auf der schwierigsten Abfahrtspiste der Welt: Sieg 2008, Sieg 2010, Sieg 2011, Sieg 2012.
Kein anderer hat auf der Streif fünf Mal die Abfahrt gewonnen. Mit seinem letzten Sieg überflügelte Didier Cuche die österreichische Legende Franz Klammer, die in Kitzbühel vier Mal siegen konnte. Auch Klammer geriet als Jungspund ins Zittern bei der ersten Begegnung mit der Streif:
Die Angst fast jedes Fahrers vor dem ersten Start in Kitzbühel kommt nicht von ungefähr. Schon einige Karrieren sind hier zu Ende gegangen. «Jungen Fahrern wird hier am ersten Tag manchmal geraten, dass sie im Hotelzimmer nicht zu viel auspacken sollen, denn am andern Abend seien sie sowieso nicht mehr hier», erzählte Routinier Cuche 2008.
Eine Aussage, die im darauf folgenden Jahr traurige Wahrheit werden sollte. Im Training kann Daniel Albrecht den Zielsprung bei 140 km/h nicht kontrollieren. Er stürzt, landet im Spital und wacht erst Wochen später wieder aus dem Koma auf. Der Walliser hat Glück, dass er überlebt. Den Versuch, im Skifahren wieder zur Weltklasse zu gehören, muss er 2013 aufgeben.
Abfahrts-Weltmeister Patrick Küng fuhr 2012 mit einem Pulsgurt. Der Glarner zog ihn sich für eine Reportage im Blick während einer Trainingsfahrt an.
Schon vor dem Start schlägt Küngs Herz 160 Mal in der Minute. Er klettert in der Mausefalle auf 165 und pendelt zwischen der Einfahrt in den Steilhang und der Hausbergkante zwischen 178 und 185.
Doch damit ist noch nicht Schluss. Obwohl Küng vor der Fahrt sagt, sein Maximalpuls liege bei 186, jagt er ihn bis ins Ziel auf 189 Schläge in der Minute. «Weil ich in diesem Training nie ans Limit gegangen bin, wird mein Herz im Rennen noch heftiger rasen», ist er überzeugt.
Küng ist ebenso wenig Vater wie es Didier Cuche zur Aktivzeit war. Vielleicht lag es daran, dass der Neuenburger in Kitzbühel fünf Mal gewinnen konnte. Denn für Cuche galt nicht, was ein berühmter österreichischer Berufskollege einst über die Streif sagte: