Stell dir vor, ein Schweizer spielt für die Montreal Canadiens und fast niemanden interessiert es. Dieser Gedanke geht mir am Montagabend in «Centre Bell» zu Montreal oben auf der Medientribune durch den Kopf, während sich unten auf dem Eis Sven Andrighetto auf dem Eis gegen Washington vergeblich abmüht und an der 1:4-Pleite gegen die Washington Capitals nichts ändern kann.
Montreal. Die Hockeyhauptstadt der Welt. Keine andere Hockey-Organisation hat das Charisma der Montreal Canadiens (oder der Canadiens de Montréal). Gründungsmitglied der NHL. Mit 24 Stanley Cups (der letzte 1993) die erfolgreichste NHL-Organisation überhaupt. Noch in den 1990er-Jahren schien es absolut undenkbar, dass je ein Schweizer hier spielen wird. Obwohl ich schon damals dachte, dass dies eigentlich möglich sein müsste.
In Montreal hat schliesslich im Herbst 2005 alles mit Mark Streit begonnen. Die Eroberung der NHL. Wir hatten bereits zwei Goalies in der wichtigsten Liga der Welt (David Aebischer und Martin Gerber). Aber Feldspieler? Verteidiger? Stürmer? Nein. Reto von Arx hatte es versucht und nicht geschafft. Goran Bezina und Thomas Ziegler auch und Julien Vauclair hatte es auf eine einzige NHL-Partie gebracht. Timo Helbling absolvierte 2005/06, Mark Streits erster NHL-Saison, auch einige Partien und skorte seinen einzigen NHL-Assist.
Erst Mark Streit schaffte es als erster Schweizer Feldspieler. In Montreal. Weil er einen «Götti» hatte. Pierre Gauthier. Damals Chefscout der Canadiens. Er hatte Mark Streit über Jahre bei der WM beobachtet und kam schliesslich zur Überzeugung: Dieser Mann hat das Potenzial für eine grosse NHL-Karriere. Er orchestrierte den Transfer des bereits 28-jährigen Captains der Nationalmannschaft von Zürich nach Montreal.
Mark Streit war eine Art Experiment. Cheftrainer Claude Julien durfte den Exoten (das waren die Schweizer damals) nicht ins Farmteam in die AHL schicken. Pierre Gauthier wusste, dass seine Entdeckung dort nichts mehr lernen konnte und versauern würde. In seiner ersten Saison sass Mark Streit manchmal auf der Tribüne, zwischendurch spielte er Stürmer, er kam «nur» auf 48 Einsätze – aber er blieb im Team. Und Pierre Gauthier bekam recht. Im zweiten Jahr war Mark Streit Stammspieler, im dritten Jahr hatte er Star-Status und im vierten Jahr wurde er Captain und Multimillionär bei den New York Islanders.
Heute ist der ehemalige SCB-Junior, den der legendäre Bill Gilligan als untauglich für die NLA taxiert hatte, nach wie vor mit Abstand der erfolgreichste Schweizer in der NHL. Am meisten Spiele. Am meisten Geld verdient. Er muss niemandem etwas beweisen. Daran dachte ich am Montagabend. Denn Pierre Gauthier war zufälligerweise auch da. Er arbeitet heute als Sportdirektor für Chicago.
Mark Streit in Montreal. Das war während der Saison 2005/06 für die helvetischen Medien ein aussergewöhnliches Ereignis. Chronisten reisten nach Montreal, um vor Ort von diesem Wunder zu berichten und ich flog auch hin. Sogar die «Schweizer Illustrierte» war da, um den helvetischen Helden farbig abzubilden, der beim berühmtesten Klub der berühmtesten Liga spielte.
Und jetzt also Sven Andrighetto (23). Erst mit der WM-Teilnahme im letzten Frühjahr in Moskau hat er sich ins Bewusstsein der Schweizer Hockey-Öffentlichkeit gespielt. Er buchte in Moskau in sieben WM-Partien sieben Punkte. Aber extra wegen ihm reisen die Chronisten nicht mehr nach Montreal. Mark Streit war damals halt längst ein Star in der NLA und in der Nationalmannschaft, als er zum grossen NHL-Abenteuer auszog. Sven Andrighetto hat hingegen noch nie in der NLA gespielt und ist sozusagen unter dem Radar der Hockey-Öffentlichkeit durchgeflogen.
Der Zürcher wechselte bereits mit 18 aus der Nachwuchsabteilung der ZSC Lions in die die gleiche nordamerikanische Juniorenliga, in der jetzt Nico Hischier spielt und schaffte von dort aus als Drittrunden-Draft direkt den Aufstieg in die NHL. Er war als Junior eine grosse Nummer und produzierte in seiner letzten Saison auf höchster nordamerikanischer Juniorenstufe zwei Punkte pro Spiel.
Er steht inzwischen im vierten Jahr in der Organisation der Montreal Canadiens unter Vertrag, und es ist seine dritte Saison mit NHL-Einsätzen. Aber er ist nach wie vor kein Stammspieler. Runter ins Farmteam, wieder rauf in die NHL. Bis heute sind es «nur» 66 NHL-Partien (9 Tore/13 Assists) und am Montag hat er das 10. Spiel dieser Saison bestritten (0 Tore/2 Assists).
Andrighetto muss auf Kosten der Canadiens nach wie vor im Hotel wohnen. Damit er jederzeit ins Farmteam geschickt werden kann. Erst einem Stammspieler wird erlaubt, ein Appartement zu beziehen. Finanziell hat das zwar keine Folgen, weil er einen Einwegvertrag hat. Er kassiert so oder so in dieser Saison 650'000 Dollar. Davon geht die Hälfte durch Steuern weg. Er könnte in der NLA mehr verdienen. Aber das interessiert ihn nicht.
Würde Sven Andrighetto nicht «Züridütsch» reden, so würde man ihn für einen jungen Kanadier halten. Längst ist Nordamerika seine Welt geworden. Er hat auch hier eine Freundin.
Die Ungewissheit, ob er morgen noch da ist, oder ob er wieder ins Farmteam muss, macht ihm nichts aus. Er hat diese so typische nordamerikanische Einstellung verinnerlicht, auch dann immer ein Maximum zu geben und eine positive Einstellung zu bewahren, wenn es nicht läuft, wie man gerne möchte. «Klar ist es nicht einfach, in der vierten oder dritten Linie etwas zu bewegen und natürlich hätte ich gerne regelmässig mehr als zehn Minuten Eiszeit. Aber es ist wie es ist und jedes Spiel ist eine neue Chance.» Er sagt es nicht einfach so, weil sich das gehört. Er lebt diese Einstellung.
Wenn ihn jetzt Montreal wieder ins Farmteam zurückschicken will, muss er durch den sogenannten «Waiver». Das heisst, dass ihn dann jedes NHL-Team übernehmen kann. Diese Regelung gilt für Spieler mit Einwegverträgen. Um zu verhindern, dass einer, der gut genug ist für die NHL und in einem anderen Team seinen Platz hätte, in den Farmteam-Ligen versauert. Gerade diese Regelung zeigt: Für Sven Andrighetto kann jeder Tag eine neue Chance bringen.
Sein Vertrag läuft im Frühjahr aus. Er kommt in seiner Karriere an einen entscheidenden Punkt. Geht es nächste Saison weiter in der NHL oder kehrt er in die Schweiz zurück? «Für mich gibt es nur ein Ziel. Ich will in der NHL bleiben und dafür tue ich alles. Wenn ich mir überlege, wo ich sonst noch spielen könnte, würde ich mich bloss ablenken lassen.»
Diese Konzentration auf das höchste Ziel fällt ihm umso leichter, weil er ganz genau weiss: Klappt es hier nicht, dann kann er in die Schweiz zurückkehren. Er wäre in der NLA mit Abstand der beste Schweizer Skorer mit dem Potenzial für mehr als 30 Tore. Diesen direkten Zug aufs Tor, diesen Spielinstinkt hat kein NLA-Stürmer mit Schweizer Pass. Er wäre in der NLA die perfekte «Tormaschine» auf der Flügelposition. Er ist zwar für nordamerikanische Verhältnisse eher klein (178 cm/85 kg), spielt aber so intensiv, dass er auf dem Eis wirkt, als sei er paar Zentimeter grösser und ein paar Kilo schwerer. Nicht so wuchtig und dominant auf den Aussenbahnen wie Nino Niederreiter oder Timo Meier. Er ist eher der Typ Sven Bärtschi.
Die Frage drängt sich auf: Hat er schon Angebote aus der Schweiz für die nächste Saison? Er sagt: «Es gibt Angebote von überall her.» Hoppla. Also auch aus der KHL? «Wie ich sagte: von überall her. Nehmen Sie das einfach so zur Kenntnis.»
André Rufener ist sein Agent. Ein Spezialist für die Rettung von NHL-Karrieren, die ins Stocken geraten sind. Nino Niederreiter und Sven Bärtschi hat er aus der Sackgasse heraus zu neuen NHL-Ufern und Dollar-Millionen geführt. Sven Andrighetto weiss, dass er bei «Rufi» in besten Händen ist. Millionär wird er so oder so. Entweder bereits mit dem nächsten NHL-Vertrag – oder dann halt lange vor seinem 30. Geburtstag in der NLA.
P.S. Für die WM wird er sich im Falle eines Falles zur Verfügung stellen. Das ist für ihn selbstverständlich und darüber braucht es keine weiteren Worte. Aber an eine WM denkt er jetzt ganz und gar nicht. Er denkt, atmet, isst und trinkt Montreal.