Die Magie ist zurück. Das erste Finalspiel in Lugano (die ZSC Lions gewannen 1:0) war noch seltsam taktisch gewesen. Arbeit, nicht Spiel. Ein Genuss nur für Puritaner. Doch nun sind Emotionen und Provokationen zurück, die schon 2000 und 2001 aus den Finals zwischen diesen zwei Teams grosse Dramen gemacht haben.
«Gott würfelt nicht». Dieser Spruch wird Albert Einstein zugeschrieben. Der Nobelpreisträger meinte damit: Alles hat seinen Sinn. Nichts ist Zufall. Weil Gott eben nicht würfelt.
Obwohl Albert Einstein auch in Bern (auf dem Patentamt) gearbeitet hat, wusste er nichts über Eishockey. Nichts über ein unberechenbares Spiel auf rutschiger Unterlage. Hätte er Eishockey gekannt, hätte er diese berühmte Aussage nicht gemacht.
Wer sagt, der Verlängerungssieg der ZSC Lions gegen Lugano (5:4) sei logisch und uns dafür gleich eine kluge Analyse mitliefert, ist ganz einfach ein Angeber.
Es gibt für diesen Sieg der Zürcher keine zwingende Logik. Die Hockeygötter haben gewürfelt. Und die Würfel sind gegen Lugano gefallen. So ungerecht oder gerecht – je nach Standpunkt – ist die Eishockeywelt.
Für jede Theorie zu diesem Spiel gibt es eine Gegentheorie. Die ZSC Lions hatten mehr Energie. Nein. Lugano stand dem Sieg in der Schlussphase der regulären Spielzeit näher. Alessio Bertaggia kommt 80 Sekunden alleine vor Lukas Flüeler zum Schuss. Der Puck streift den Pfosten.
Zürichs Lukas Flüeler war der bessere Torhüter als Luganos Elvis Merzlikins. Das mag statistisch knapp stimmen: Lukas Flüeler wehrte 89,47 Prozent der Schüsse ab. Elvis Merzlikins 89,36 Prozent. Eine Zufallsdifferenz. Beide waren an Gegentreffern mitschuldig. Aber beide parierten ebenso «unhaltbare» Pucks.
Roman Wick hat den entscheidenden Treffer nach exakt 77 Minuten erzielt. Weil Eishockey eben gespielt und nicht gearbeitet worden ist. Trainer Hans Kossmann sagt zwar, Roman Wick habe diesen Treffer verdient, weil er seit Wochen sehr hart arbeite. Aber getroffen hat Roman Wick, weil er ein Spieler ist. Kein Arbeiter.
Roman Wick ist einer der ganz wenigen Spieler, die diese gewisse Leichtigkeit des Seins haben – und darum die Gunst der Götter. Er wirkt nach dem Spiel locker und frisch. Die 23 Minuten und 26 Sekunden Eiszeit sind ihm nicht anzumerken. Draussen hat er einem Fan einen Stock versprochen und darum kümmert er sich.
Hätte Hollywood die Rolle eines coolen, freundlichen Hockeystars zu vergeben, Roman Wick bekäme sie. Mit der Auflage, einfach sich selbst zu sein und nicht etwa zu schauspielern. Mit den langen Haaren wirkt er wie ein Rockstar.
Locker erzählt er von seiner Heldentat. Er habe ein gutes Zuspiel von Kenins bekommen und eine Schusslinie gesehen. Und er hat abgedrückt und getroffen. Am Ende ist dieses Tor die perfekte Kombination aus Kunst und Energie. Der Kunstschütze Roman Wick trifft nach Vorarbeit des Energiespielers Ronalds Kenins.
Lugano macht jetzt die Erfahrung: die ZSC Lions sind kein Operetten-Team wie Gottéron im Viertelfinale. Und sie sind eine Nummer grösser als Biel im Halbfinale.
In Biel gelingt Sébastien Reuille bei nummerischer Unterlegenheit auf Vorarbeit von Raffaele Sannitz (und Thomas Wellinger) der Anschlusstreffer zum 1:3. Es ist der Anfang vom Ende. Biel verliert 3:6 und anschliessend drei weitere Spiele bis zum Ausscheiden.
Im Hallenstadion gelingt Sébastien Reuille bei nummerischer Unterlegenheit auf Vorarbeit von Raffaele Sannitz der Ausgleich zum 2:2. Die ZSC Lions wanken. Aber sie siegen am Ende doch.
Dieses Lugano ist spielerisch und taktisch weniger gut als der SC Bern im Halbfinale. Der Titelverteidiger war dazu in der Lage, ein Spiel gegen die Zürcher zu dominieren. Aber die ZSC Lions standen immer auf den Zehenspitzen und waren stark genug, um jeden Fehler zu bestrafen. Deshalb gewannen sie dieses Halbfinale.
Nun sind die Vorzeichen umgekehrt. Die ZSC Lions sind über vier Linien talentierter und dazu in der Lage, ein Spiel zu dominieren. Aber Lugano steht immer auf den Zehenspitzen und ist stark genug, um jeden Fehler zu bestrafen. Deshalb mussten die Zürcher in die Verlängerung. Deshalb ist die Serie noch nicht entschieden.
Nach dem Spiel mokiert sich ein Puritaner über das Niveau. Zu viele Fehler. Kein gutes Hockey. Puritaner sehen Eishockey als Arbeit. Eishockey soll gearbeitet, nicht gespielt werden. Alles soll berechenbar, präzis und fehlerfrei sein. Das ist dann für die Puritaner hohes Niveau. Gottseidank war es kein gutes Hockey im Sinne der Puritaner. Gottseidank wurde Eishockey gespielt.
Nach dem Spiel achten alle sorgsam darauf, die ungeschriebenen Gesetze der Playoffs zu respektieren. Nur jetzt ja nichts verschreien. Also sagen alle, die befragt werden, man nehme Spiel für Spiel. Noch sei nichts entschieden.
Zwei von vier Siegen sind geschafft. Aber ZSC-Trainer Hans Kossmann antwortet auf die Frage, ob dieser zweite Sieg nun die «halbe Miete» sei: «Nein.» Er vermeidet auch sorgsam eine Antwort auf die Frage, ob er in seinem Vertrag eine Meisterprämie habe. Er weicht aus und sagt, er wisse es nicht. Seine Frau kümmere sich um finanzielle Angelegenheiten. Er weiss: niemals über einen Titel reden, der noch nicht gewonnen ist. Das verärgert die Hockey-Götter.
Und doch sind die ZSC Lions dem Titel näher als Lugano. Nicht wegen der zwei Siege. Die sind aufzuholen. Es ist etwas anderes: Lugano steht näher am Abgrund der Erschöpfung.
Noch war in diesem Spiel auf den ersten Blick nicht zu erkennen, welche Mannschaft mehr Energiereserven hat. Aber auf den zweiten Blick schon. Stark vereinfacht gesagt: Wenn der Treibstoff der Zürcher zu 50 Prozent aus Kraft und zu 50 Prozent aus Emotionen gemischt ist, dann liegt diese Mischung bei Lugano bei 30 Prozent Kraft und 70 Prozent Emotionen.
Wir haben in Zürich ein grosses, weil leidenschaftliches Lugano gesehen. So lange diese Leidenschaft brennt, so lange können Philippe Furrer, Ryan Johnston und Julien Vauclair die Abwehr zusammenhalten.
So lange diese Leidenschaft brennt, behält Maxim Lapierre die Balance zwischen Provokation und Powerhockey. So lange diese Leidenschaft brennt, gehen Sébastien Reuille, Raffaele Sannitz und Julian Walker ihren Gegenspielern unter die Haut. So lange diese Leidenschaft brennt, kann Elvis Merzlikins «unmögliche» Pucks halten.
So lange diese Leidenschaft brennt, kann Lugano die ZSC Lions herausfordern.
Diese Leidenschaft wird im Falle einer dritten Niederlage am Montag erlöschen. Dann werden Philippe Furrer, Ryan Johntson und Julien Vauclair erlahmen. Dann verkommt Maxim Lapierre zum Provokateur ohne spielerische Wirkung. Dann wird aus Elvis Merzlikins ein Lottergoalie. Dann können Sébastien Reuille, Raffaele Sannitz und Julian Walker zwar weiterhin mit den ZSC-Titanen am Tisch sitzen. Aber sie dürfen das Menu nicht mehr bestellen.
Die ZSC Lions sind Meister, wenn sie am Montag gewinnen. Die Meisterschaft kann also am Montag entschieden werden. Ausgerechnet am Montag. Am Tag des Zürcher «Sechseläuten». Das «Sechseläuten» ist das seltsame Frühlingsfest der Zürcher. Ein Mix aus Voodoo, Fastnacht, heidnischen und christlichem Brauchtum.
Trainer Hans Kossmann hat noch nie etwas vom «Sechseläuten» gehört. «Ich dachte, ich kenne so ziemlich alle Bräuche in der Schweiz. Aber vom – wie heisst das schon wieder? – also vom Sechseläuten habe ich noch nie etwas gehört.»
Das Gefühl, Meister zu sein, kennt er auch noch nicht. Es wird Zeit, dass er nun beides kennen lernt.