Ski-Star Marco Odermatt: «Das alles ist weit weg von Vergnügen»
Helmut Krug gehört zu den Erfolgsfaktoren im Umfeld von Marco Odermatt. Der Riesenslalom-Trainer des Nidwaldners hebt in der Biografie über den Schweizer Ski-Star den Warnfinger und sagt, er mache sich Sorgen um seinen 28-jährigen Schützling: «Ich will nicht, dass er daran kaputtgeht.» Wie schätzt «Odi» selbst die Situation ein?
Ihr Trainer Helmut Krug hebt auf dramatische Weise den Warnfinger bezüglich Ihrer mentalen Gesundheit. Machen Sie sich selbst auch Sorgen?
Marco Odermatt: Nein, Sorgen im konkreten Sinn nicht. Aber ich weiss logischerweise, was Helmut mit seinen Worten ausdrücken will. Er bekommt es hautnah mit, was bei mir nach einem Rennen oder Training noch alles ansteht, während sein Job gemacht ist und er auch den Vergleich sieht zu meinen Teamkollegen, die ihren Arbeitstag nach Rennschluss mehr oder weniger beenden können. Es ist ein zusätzlicher Aufwand, den nur die Wenigsten haben. Das spricht er mit seiner Aussage an.
Er sagt, Sie funktionieren stets. Es ist doch kein Vergnügen, wenn man immer funktionieren muss?
Das ist definitiv so. In jedem Rennen, bei dem ich am Start stehe, ist das Ziel, es zu gewinnen. Das ist eine grosse Challenge. Und es braucht auch brutal viel Energie, sich immer wieder in diese Situation zu begeben und dort zu bleiben. Das alles ist weit weg von Vergnügen. Ich behaupte, Rennen zu fahren, ist – wenn man über die Ziellinie fährt und es gut ausgegangen ist – für ein paar Sekunden ein Genuss. Ansonsten ist ein Renntag harte und strenge Arbeit.
Gibt es Momente, in denen es Ihnen gelingt, aus diesem Hamsterrad des Funktionierens auszubrechen?
Ja, die gibt es. Wenn ich mit anderen Personen abschalten kann. Es hilft zweifellos auch, dass wir es im Team sehr gut miteinander haben. Ich denke, in einem Privatteam ist dieser Aspekt viel schwieriger. Wenn man immer nur mit dem Trainer, dem Servicemann und dem Physiotherapeuten am Tisch sitzt und sich die Diskussionen stets um das Skifahren drehen, fällt es ungleich schwerer, aus diesem Rad auszubrechen.
Ein Grund, wieso Sie stets gesagt haben, ein Privatteam komme für Sie nicht infrage?
Ja, ich bin nicht der Typ dafür.
Gibt es Momente, in denen Sie das Bedürfnis haben, aus dem Trubel zu flüchten?
Ja, x-mal in spezifischen Situationen. Wohl auch heute Abend, denn ich bin seit frühmorgens mit Verpflichtungen beschäftigt. Irgendwann sind die sozialen Batterien, jeder Person etwas zu erzählen und ihnen dabei ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern, erschöpft. Aber ich erhole mich auch schnell, muss morgen nicht den ganzen Tag herumliegen. Es reicht mir, gut und vielleicht eine Stunde länger zu schlafen, um wieder erholt in den Skialltag zurückzukehren.
Auch Ihre Freundin sagt im Buch, sie bräuchten sehr wenig Me-Time. Müssten Sie sich nicht mehr Me-Time gönnen oder sich sogar dazu zwingen?
Ich denke, wenn ich sie effektiv benötigte, würde ich sie mir auch nehmen. Aber ich habe – wohl auch durch das Leben, das ich führe mit sehr frühem Erfolg und in jungen Jahren bereits vielen Verpflichtungen – schnell gelernt, speditiv zu sein, viele Dinge zu erledigen und wenig Freizeit zu haben. Ich habe mich inzwischen schon sehr daran gewöhnt. Wenn ich ausnahmsweise einmal zuhause bin und nichts Konkretes zu tun habe, überlege ich, was ich jetzt noch erledigen könnte. Etwa meine Grossmutter wieder einmal zu besuchen, weil ich später im Winter kaum mehr Zeit dafür haben werde. Oder den Onkel. Dieses Pflichtbewusstsein, auch mein soziales Umfeld zu pflegen, geht ebenfalls zu Lasten dieser Me-Time. Aber selbst wenn mich der Besuch bei meiner Grossmutter im Augenblick vielleicht nicht grenzenlos erfüllt, gibt es mir doch ein gutes Gefühl, zu wissen, ihr damit eine Freude bereitet zu haben. Das gibt im Nachhinein auch mir grosse Befriedigung.
Sie sind also ein Mensch, der emotional auch davon zehrt, wenn er anderen eine Freude bereitet?
Ja, ich denke, das ist ziemlich ausgeprägt der Fall.
Sie sind ein Mensch, der immer alles erledigt haben will. Kein einfaches Unterfangen, denn im Grunde ist doch eigentlich nie alles erledigt?
Ja, das ist so. Und trotzdem schaffe ich es aktuell mit meinem Lebensstil, die Sachen erledigt zu haben. Ich kann dabei auch auf ein super Umfeld zählen, effektiv muss ich wenige Dinge ganz allein erledigen. Ich bin im Übrigen auch ein Mensch, der Hilfe annehmen kann.
Für einen Topsportler in einer Individualsportart, der sich gewohnt ist, selbst für sich verantwortlich zu sein, eine nicht selbstverständliche Stärke. Viele Athleten haben Schwierigkeiten, Dinge zu delegieren oder Hilfe anzunehmen, weil sie Angst vor dem Kontrollverlust haben.
Das glaube ich auch. Es ist grundsätzlich eine Krankheit von vielen Menschen in Führungspositionen, weil sie gerne die Kontrolle behalten. Ich konnte das aber schon immer problemlos.
In Sölden offenbarten Sie vor dem Rennen Selbstzweifel. Eine Reaktion auf die gigantische Erwartungshaltung Ihnen gegenüber?
Ja, vielleicht auch ein wenig. Es wurden in den Wochen vor Sölden viele Fragen nach meiner Motivation gestellt. Ich konnte diese Fragen nicht so richtig mit hundertprozentiger Überzeugung beantworten. Und ich habe begonnen, mir diese Frage selbst zu stellen.
Sie meistern die Erwartungen grandios, eilen im Hochgeschwindigkeitstempo von Erfolg zu Erfolg. Wie oft stimmt die Aussenansicht des perfekten Marco Odermatt nicht mit ihren eigenen Gefühlen überein?
Ich habe grundsätzlich schon das Gefühl, dass ich viele Dinge sehr gut mache. Sonst wäre ich sportlich nicht da, wo ich bin. Man muss dafür nicht in allen Bereichen der Beste sein, aber man muss in allen Bereichen sehr gut sein, damit das Gesamtpaket passt. Offensichtlich stimmen auch bei meinem Charakter und im Umgang mit Mitmenschen viele Dinge, wenn ich mich auf das erhaltene Feedback beziehe. Ich spüre ja selbst, wenn sich Teamkollegen auch beim 46. Sieg noch immer für mich freuen können. Das zeigt mir, dass ich auch in diesem Bereich Sachen nicht ganz falsch mache.
Die Freude als Quelle des Erfolgs zieht sich durch Ihre Biografie. Aber es erscheint mir, dass es immer mehr auch zu einem Kampf wird, diese Freude zu finden?
Ich stehe da, wo ich bin, wegen vieler wichtiger Menschen in meinem Umfeld. Ich habe in meinem Leben im richtigen Moment die richtigen Trainer und Serviceleute zur Seite gehabt. Dafür braucht es ein wenig Glück, aber auch die Tugend, diese Hilfe auch annehmen zu können oder die Inputs richtig umzusetzen. Je akribischer und detaillierter diese Arbeit wird, desto weniger Marge hat man. Vielleicht ist auch dies ein Grund dafür, dass es für mich nicht mehr immer gleich lustig ist wie früher. Vor fünf Jahren war vieles noch neu und aufregend für mich.
Was meinen Sie mit weniger Marge?
Im Training auf meinem Level etwas verbessern zu wollen. Da geht es häufig wirklich nur noch um das allerletzte Detail. Um dieses Detail nur schon zu finden, muss vieles perfekt stimmen und ich muss im Training auf mein bestes Niveau kommen. Es bewegt sich bei mir mittlerweile alles auf dem obersten Level, um mich dieses eine Prozent verbessern zu können.
Sprechen wir über Ihre Biografie: Normalerweise blickt man in einer solchen zurück auf eine Karriere. Was war Ihr Antrieb, sie gerade jetzt zu veröffentlichen?
Es ist wohl tatsächlich nicht der typische Zeitpunkt für ein solches Buch. Vor zwei, drei Jahren kamen die ersten Gedanken dazu auf. Zuerst von Michael Schiendorfer, meinem Manager. Im vergangenen Jahr kam dann ein Buch über mich auf den Markt, von dem wir nichts wussten. Wir sagten uns, wenn da ohnehin Dinge ohne unser Zutun entstehen, dann machen wir besser selbst etwas richtig Cooles mit einer engen Zusammenarbeit zwischen mir und den Autoren.
Wie kam man zum jetzt umgesetzten Konzept?
Ich bin überzeugt, dass man in einem solchen Buch auch über das Hier und Jetzt erzählen kann. Ich bin grundsätzlich ein Mensch, der in der Gegenwart lebt. Ich hoffe, in 30 Jahren nicht nur von früher zu reden und mit meiner sportlichen Karriere entspannt abschliessen zu können. Also erzähle ich lieber jetzt etwas aus meinem Leben, wenn es die Menschen noch interessiert.
Lesen Sie selber auch Biografien?
Ich bin offen gesagt nicht gerade eine Leseratte. Ich habe nicht so viele Bücher verschlungen. Aber ich habe schon Biografien von anderen Sportlern gelesen. Das lässt sich jedoch an einer Hand abzählen.
Welche Sportler?
Die Bücher über Roger Federer sowie jene über Marcel Hirscher, Arno Del Curto und Dario Cologna.
Wie hat man die im Buch zu Wort kommenden Personen ausgewählt?
Ich habe den Autoren ein wenig aus meinem Leben erzählt und sie haben dann mit den Menschen aus meinem Umfeld den Kontakt gesucht. Alle, die wir im Kopf hatten, haben mitgemacht. Danach ging es darum, wer bereit ist, wie viel preiszugeben und wie offen zu reden, damit es spannend genug für das Buch wird.
Auch Sie geben sich im Buch sehr offen und persönlich. War das schwierig für Sie?
Das schwierigste waren die Auszüge aus meinem Tagebuch. In diesem Punkt habe ich lange hin und her studiert, ob ich das wirklich auf diese Weise zeigen will. Aber ich war der Ansicht, wenn ich schon eine solche Biografie mache, muss ich auch etwas hergeben. Dieses Tagebuch ist zweifellos das Persönlichste am Buch – zusammen mit der Erfahrung, meine Eltern oder meine Freundin so abgebildet zu sehen und reden zu hören. Für mich etwas Neues, aber sicherlich auch für sie nicht ganz einfach. Für mich war es eine spannende Erfahrung, zu lesen, wie meine Mitmenschen über mich denken.
Haben Sie dabei auch neue Dinge erfahren oder etwas, das Sie überrascht hat?
Nein, etwas komplett Neues oder Überraschendes sicher nicht. Und trotzdem wurden mir einige Dinge durch die Aussagen aus dem Umfeld bewusster. Konkret durch die Einschätzung der Trainer, dass ich Dinge schnell aufnehmen und umsetzen könne. Natürlich wusste ich, dass diese Sachen bei mir wahrscheinlich nicht so schlecht funktionieren. Aber dass es auch für die Trainer speziell ist, habe ich nie in diesem Ausmass wahrgenommen.
Wo zogen Sie die Grenze in puncto persönlicher Aussagen über Sie?
Eigentlich nirgends wirklich. Ich bin immer gut damit gefahren, keine Geheimnisse zu haben. Ich habe nichts zu verheimlichen. Ich habe mich noch nie verstellt. Ich bin, wie ich bin, und habe Dinge stets authentisch preisgegeben. Deshalb muss ich auch nicht sehr schnell Grenzen ziehen.
Die persönlichen Eindrücke sind auch für Ihre Konkurrenten spannend. Wie weit hatten Sie dies im Hinterkopf?
Ein wenig. Allerdings habe ich nie Geheimnisse über irgendwelche Dinge gemacht. Wenn mich jemand nach etwas fragte, habe ich ihm dies auch gesagt. Es ist kein Geheimnis, dass ich diese Renntagebücher schreibe. Und wenn ein Konkurrent etwas Spannendes liest, muss er es zuerst ja auch noch umsetzen können. Eine Linie im Kopf hat man schnell einmal. Sie auch fahren zu können, ist eine ganz andere Geschichte.
Es gibt einen neuen Film und ein Buch über Sie. Was ist Ihr nächstes Projekt?
Es passt für mich, wenn jetzt die Saison beginnt und ich während den nächsten Monaten ausschliesslich Skifahren im Kopf habe und nicht in sieben anderen Bereichen Projekte planen muss. Mir wird sicher nicht langweilig und irgendwann wird eine neue Idee entstehen. Es hat auch im Booklet noch Platz für eine Erweiterung, falls es in den nächsten Jahren noch etwas Spannendes über mich zu erzählen gibt.
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