In Wengen hat sich in den letzten Tagen ein Fieber ausgebreitet, ein Skifahrer aus Nidwalden hat es ausgelöst, wobei: Dieses Fieber ist eigentlich nichts Neues, nur lässt es sich nicht stoppen, im Gegenteil. Es wird einfach immer grösser.
Nicht einmal vor der Bundespräsidentin macht es am Samstag halt. Auch Viola Amherd ist ans Lauberhorn gekommen, um Marco Odermatt zu huldigen. Als der Schweizer nach seinem zweiten Sieg am Lauberhorn im Zielraum wieder einmal auf ein Podest steigt, steigt sie mit hinauf.
Könnte seltsam werden, etwas verkrampft. Aber Odermatt legt einfach den Arm um die Bundespräsidentin, und die findet das ganz gut. Dann wird gemeinsam in die Kamera gestrahlt.
So ist das mit dem Nidwaldner: Er macht es einfach so, wie es ihm gerade in den Sinn kommt. Und eigentlich finden es immer alle super.
Amherd und Odermatt. Die höchste Schweizerin – gefühlt, nicht formell. Und der höchste Schweizer – gefühlt, nicht formell. Aber das gerade von ganz, ganz vielen. Es ist ein Bild, das bleiben wird von diesen Tagen in Wengen.
Bleiben wird überhaupt viel, man wird noch eine Weile über dieses Wochenende sprechen, weil eben auch viel zusammengekommen ist: Dieser Schweizer Übersportler der Gegenwart, der an den wichtigsten Ort der Ski-Nation kommt. Dort allen davonfährt, von der Sonne beschienen, von Zehntausenden bejubelt. Der zweimal Lauberhorn-Abfahrtssieger wird, im gleichen Jahr. Das kann kein anderer Schweizer Ski-Fahrer von sich behaupten und überhaupt nur ein einziger auf der ganzen Welt, Marc Girardelli.
Ja, Odermatt hat sich nicht darum gerissen, zweimal eine Abfahrt am Lauberhorn hinunterzufahren, das hat er klargemacht. Aber bald wird darüber niemand mehr sprechen. Über die zwei Siege schon. Sie sind bereits jetzt ein Stück Schweizer Sportgeschichte.
Und wer Odermatt noch nicht verfallen ist, dem ist das in diesen Tagen passiert. In Wengen haben sie über die Jahre viele Legenden kommen und gehen sehen, ein Roland Collombin hat hier gewonnen, ein Peter Müller, ein Franz Heinzer, ein Carlo Janka, ein Beat Feuz, natürlich.
Aber wie Odermatt, da sind sie sich am Lauberhorn einig, hat noch nie jemand die Leute mitgerissen. Er habe so etwas jedenfalls noch nie erlebt, sagt Urs Näpflin, der seit 2014 das OK präsidiert und dort schon viel länger involviert ist.
Odi, Odi, Odi, Odi, oh, das ist der Soundtrack des Wochenendes. So geht das immer und überall in Wengen. Am Samstagmorgen, als der Nidwaldner aus dem Hotel kommt, an den Menschenmassen vorbeieilt, um am Wengener Bahnhof in den Zug zu steigen. Am Mittag, als er am dicht bepackten Berg zum Startgelände fährt. Manchmal stimmen erwachsene Männer das Liedchen an, in grossen Gruppen, klar, aber auch einmal: ganz alleine, etwas versonnen, in einer Gondel, auf einem Sessellift.
Es gibt Kinder zu sehen, die weinen, weil sie Odi gerade verpasst haben. Andere, die sich zurufen, dass sie heute ohne sein Autogramm nicht ins Bett gehen. Und am Samstag, im Zielraum – auf dem Podest Odermatt, aus den Boxen die Nationalhymne –, steht auf der Tribüne dem einen und der anderen das Wasser in den Augen.
38'000 Menschen sind am Samstag ans Lauberhorn gekommen, ein Rekord. In langen Reihen marschieren sie von der Kleinen Scheidegg hinunter zum Girmschbiel, diesem Hügel, der beim Lauberhorn-Rennen zu einer gewaltigen Tribüne wird. Manche lassen sich gar auf den Berg fliegen, per Helikopter, 290 Franken ab Lauterbrunnen.
Eine Prozession, und das alles nur für Odi.
Auf dem Girmschbiel stehen die Leute dicht gedrängt, sie haben Raclette-Öfen in den Schnee gestellt oder eine Fondue-Pfanne auf den Schlitten. Die einen sehen nach Stadt aus und die anderen nach Land, alles kommt am Girmschbiel irgendwie zusammen, die Leute, der Käse, der Schnee, die Sonne, die Berge.
Und Odermatt, der Sportstar, auf den sich alle einigen können.
In Wengen gibt es Klischee-Schweiz im Überfluss, alte Schweiz, ein Stück weit, aber das soll nicht bedeuten, dass die Leute dort mit der neuen Schweiz nichts am Hut haben. Sie machen sich einfach einen Spass daraus, ein wenig das Klischee zu feiern. Man weiss ja nie, wie lange es noch genug Schnee hat.
Und so stehen sie am Samstag gemeinsam am Girmschbiel. Rufen Odi, Odi, Odi. Jubeln bei jeder grünen Zwischenzeit. Atmen auf, als Cyprien Sarrazin, Franzose und so schnell, dass er Odermatt im Super-G sogar besiegt hat, nicht am Schweizer vorbeikommt.
Unten im Zielraum schwärmt Bundespräsidentin Amherd später über Odermatt, wie das Politiker so tun: eine aussergewöhnliche Persönlichkeit. Ein Botschafter für die Schweiz. Solche Sachen.
Und dann macht die Walliserin diesen Vergleich, der gerade häufiger gezogen wird: Odermatt, das sei einer vom Schlage Federers, «ein ähnliches Phänomen».
Einer wie Federer: Grösser geht es in der Schweiz nicht. Der Nidwaldner hat den Baselbieter als wichtigsten Schweizer Sportler der Gegenwart abgelöst. Und während Federers Arenen in New York standen, in London und Paris, stehen die von Odermatt am Chuenisbärgli und am Lauberhorn. Umrahmt von Eiger, Mönch und Jungfrau. In den Schnee gebaut von Berglern.
Wenn Federer wieder einmal irgendwo ein Turnier gewonnen hatte, flog er auch mal an seinen Zweitwohnsitz nach Dubai, um sich zu erholen. Odermatt tut das daheim in Nidwalden. Mit Federer eint ihn das bescheidene, zugängliche Wesen, aber er ist der Schweiz näher geblieben. Ihr nicht entschwebt wie Federer, der Weltbürger. Das lässt seine Sportart gar nicht zu, aber der Nidwaldner macht auch viel dafür. Schwingt in Fernsehsendungen den Kochlöffel. Schaut trotz dicht bepacktem Terminkalender noch bei den Swiss Sports Awards vorbei.
Der 26-Jährige wird grösser und grösser, aber er schafft es irgendwie, seine Füsse fest am Boden zu halten.
Am Samstagabend steht Odermatt in Wengen auf dem Dorfplatz, Siegerehrung, schon wieder. Er hat gerade seine Zinnkanne in Empfang genommen und die Nationalhymne gesungen, ein zweites Mal an diesem Tag. Jetzt sagt der Moderator zu ihm, dass man ja wisse, dass er gerne ein bisschen Gas gebe. Und ob er dafür an diesem Abend noch ein wenig Zeit finde. Odermatt schmunzelt, sagt, ein bisschen Zeit finde sich schon.
Die Leute, nicht wenige mit ziemlich glasigem Blick, finden das natürlich super. Irgendwie ist dieser Odi ja einer von ihnen. Falsch machen kann der gerade sowieso gar nichts. Selbst wenn er mal einen raueren Tonfall anschlägt, FIS-Funktionäre als Clowns bezeichnet oder sich über den gedrängten Terminkalender beschwert, nimmt ihm das niemand wirklich übel. Im Gegenteil: Recht hat er!
In Wengen fährt Odermatt in drei Rennen dreimal aufs Podest, zweimal siegt er. Allein diesen Winter hat er schon sieben Weltcuprennen gewonnen – so viele wie Paul Accola in seiner ganzen Karriere. Er ist jetzt 26 Jahre alt, hat 31 Weltcupsiege in seinem Palmarès und 62 Podestplätze. Nur ein Schweizer, Pirmin Zurbriggen, hat öfter gewonnen. Nur zwei Schweizer, Zurbriggen und Didier Cuche, standen öfter auf dem Podest.
Weil Odermatt gerade von einem Erfolg zum nächsten rast, ist es gar nicht so einfach, den Überblick zu behalten. Und auch: den Blick für die Relationen.
Als der Schweizer am Freitag nach dem zweiten Platz im Super-G im Zielraum steht, wird er zuweilen wie einer befragt, der einen Misserfolg zu erklären hat. Warum es denn nicht zum Sieg gereicht habe, fragt ihn ein Reporter. Weil einer schneller war, gibt Odermatt zurück. Später weist er noch darauf hin, dass er nicht 25. geworden sei, sondern Zweiter. Er klingt für einmal etwas schnippisch.
Die Szene ist wichtig, weil sie zeigt, wie das Land Odermatt gerade begegnet: Es liebt ihn heiss und innig. Aber es reagiert schon fast überrascht, wenn er einmal nicht gewinnt. Er ist ein Rennfahrer, dem das Siegen so leicht fällt, dass er bei den Leuten keine Hoffnungen weckt. Sondern Erwartungen.
Odermatt siegt und siegt und siegt, und es fühlt sich an, als ginge das immer so weiter. Aber im Skisport kann die Welt ganz schnell ganz anders aussehen, das hat sich am Wochenende wieder gezeigt, bei den schweren Stürzen von Alexis Pinturault und Aleksander Kilde, zwei Giganten des Sports.
Auch Odermatt weiss das. Und weist in Wengen immer wieder darauf hin. Nur will das gerade niemand hören. (aargauerzeitung.ch)