Die USA wurden von der Corona-Pandemie weltweit am schwersten getroffen, wenn man die absoluten Zahlen in Betracht zieht: Derzeit ist die Zahl der Infektionsfälle laut Worldometer auf nahezu 2,5 Millionen angestiegen und mehr als 120'000 Menschen, bei denen Covid-19 nachgewiesen wurde, sind gestorben.
Die Pandemie begann in den USA gemäss den offiziellen Zahlen jedoch erstaunlich langsam: Die Zahl der Infektionsfälle war im März sehr niedrig. Mehrere Wissenschaftler hatten sie deshalb bezweifelt. Laut einer neuen Studie könnten der Corona-Ausbruch in den USA zu Beginn tatsächlich massiv unterschätzt worden sein: Die Zahl der Infektionen sei möglicherweise 80 Mal höher gewesen. Und SARS-CoV-2 könnte sich in den USA doppelt so schnell wie ursprünglich gedacht ausgebreitet haben.
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Die Wissenschaftler um Justin Silverman von der Penn State University, die ihre Studie in der Fachzeitschrift «Science Translational Medicine» veröffentlichten, untersuchten die von den Centers for Disease Control and Prevention ermittelte Anzahl der Patienten mit Grippesymptomen über einen Zeitraum von drei Wochen im März. Diese verglichen sie mit den Zahlen aus vergangenen Jahren. «Wir haben die Fälle in jedem Bundesstaat analysiert, um eine Schätzung vornehmen zu können, wie viele von ihnen nicht der normalen Grippe zugeschrieben werden können», erklärte Studienautor Silverman in einer Mitteilung der Penn State University.
Der «Überschuss» der Zahlen des Jahres 2020 in den amerikanischen Bundesstaaten korrelierte laut den Forschern genau mit der Ausbreitung des Virus in den USA. Für das ganze Land lag er in den letzten drei Märzwochen bei 8,7 Millionen Neuerkrankungen – während im selben Zeitraum offiziell lediglich rund 100'000 Corona-Infektionen registriert wurden. Dies bedeutet, dass die Anzahl der frühen Covid-19-Fälle in den USA möglicherweise 80 Mal höher lag als angenommen wurde.
Die Untersuchung ergab zudem, dass die Anzahl der Infektionen sich fast zweimal so schnell verdoppelt hatte wie ursprünglich angenommen. «Zuerst konnte ich nicht glauben, dass unsere Schätzungen korrekt sind», sagte Silverman. «Wir stellten jedoch fest, dass sich die Todesfälle in den USA alle drei Tage verdoppelt hatten. Unsere Schätzung der Infektionsrate stimmte damit überein, seit die erste Infektion am 15. Januar im Staat Washington gemeldet wurde.»
Die Forscher analysierten auch die Infektionsrate in den verschiedenen Bundesstaaten, etwa New York. Nach ihrem Modell waren dort Ende März mindestens 9 Prozent der Einwohner mit SARS-CoV-2 infiziert. Als New York Ende April dann 3000 Einwohner auf Antikörper testete, ergab sich tatsächlich eine Infektionsrate von 13,9 Prozent – was auf den gesamten Bundesstaat hochgerechnet etwa 2,9 Millionen Einwohnern entspricht.
Diese Befunde verändern den Blick auf die Corona-Pandemie komplett, wie die Wissenschaftler glauben. «Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die überwältigenden Auswirkungen von Covid-19 möglicherweise weniger mit der Letalität des Virus zu tun haben als vielmehr damit, wie schnell es sich ursprünglich ausbreiten konnte», erklärte Silverman.
SARS-CoV-2 habe sich schnell und unbemerkt ausbreiten können. Zudem wiesen auch mehr Patienten mildere Symptome auf als zunächst angenommen, stellte Silverman fest. Eine niedrigere Todesrate in Verbindung mit einer höheren Krankheitsprävalenz sowie der schnellen Ausbreitung regionaler Infektionsherde biete eine Erklärung dafür, warum es in bestimmten Gegenden der Welt zu einer grossen Anzahl von Todesfällen und überfüllten Krankenhäusern gekommen ist.
Die Vermutung, dass sich das Virus schon viel früher grossflächig ausgebreitet hat, wird von Untersuchungen aus anderen Ländern gestützt. Abwassereranalysen legen den Schluss nahe, dass SARS-CoV-2 in Italien bereits im Dezember kursierte. In China dürfte das Virus ebenfalls früher als ursprünglich angenommen ausgebreitet haben.
(dhr)