Herr Krämer, Sie sind Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik und entlarven als solcher gern zwielichtige Datenanalysen. Haben Sie derzeit eine Lieblingsstatistik?
Walter Krämer: Ja. Das ist die Tabelle der Fussball-Bundesliga. Ich wohne direkt neben dem BVB-Stadion und bin seit mehr als einem Dutzend Jahren BVB-Aktionär.
Sie haben die Deutschen mal als «Volk von Innummeraten» (Zahlen-Analphabeten) bezeichnet und ihre bedauerliche Schwäche Goethe, dem dichtenden Mathematik-Hasser, in die Schuhe geschoben. Wir wollen mal hoffen, um die Schweizer stehe es ein bisschen besser. Können Sie uns dafür die goldene Regel verraten, die es beim Lesen von Statistiken unbedingt zu beachten gilt?
Zunächst mal kurz nachdenken: Will mich da jemand informieren oder bekehren? Selbst im ersten Fall sind rein aus Schlamperei noch alle möglichen Fehler möglich. Im zweiten Fall ist gewollte Manipulation so gut wie sicher.
Welche Tricks werden zum Zweck der Manipulation besonders gern eingesetzt?
Ich glaube, den Rekord hält hier das Hin- und Herwechseln zwischen relativen und absoluten Risiken bzw. Wachstumsraten, je nachdem, was besser passt. Beispiel aus Deutschland: In drei Jahren sterben zwei von 80 Millionen Bundesbürgern an der Cholera, drei Jahre danach vier. Schlagzeile in der «Welt»: «Choleragefahr verdoppelt.»
Sie bringen ein Medienbeispiel. Erkennen Sie hier eine Systematik oder war das ein Einzelbeispiel?
Das ist leider Standard. Sehen Sie mal die Liste unserer bisherigen Unstatistiken an. Ungefähr ein Drittel haben eine solche Manipulation zum Gegenstand. Beispiel: WHO meldet 20 % Erhöhung des Krebsrisikos durch Wurst. Ohne Wurst kriegen fünf von 1000 Männern Darmkrebs, mit Wurst sechs von 1000. Und so weiter ...
Mit Statistiken können also Ängste geschürt und unnötig Panik verbreitet werden. In welchen gesellschaftlichen Bereichen funktioniert das besonders gut?
Bei allem, was mit Umwelt und Chemie zu tun hat. Siehe die aktuelle Feinstaub- und NO2-Hysterie. Sachlich völlig unbegründet. Die für Deutschland kolportierten 6000 bzw. 50'000 darauf zurückzuführenden Todesfälle sind reine Phantasieprodukte.
Die von Ihnen angezweifelten 6000 vorzeitigen Todesfälle für das Jahr 2014 finden sich zum Beispiel beim deutschen Umweltbundesamt. Warum sind diese Zahlen unbegründet?
Weil sie nicht auf Beobachtung basieren, sondern auf statistischen Modellen. Und diese Modelle sind falsch. Dieter Köhler beschreibt im «Deutschen Ärzteblatt» anschaulich, wie bei solchen Studien aus der Korrelation eine Kausalität gemacht wird:
«Im Normalfall sollte eine Korrelation bestenfalls als Grundlage für eine Hypothese dienen, die mittels weiterer Untersuchungen (und anderer Methoden) erhärtet werden soll. Der Erkenntnisgewinn wird aber am stärksten beschleunigt, wenn eine Studie oder ein Experiment falsifizierend angelegt ist, also eine Widerlegung versucht wird. Solche Ansätze gibt es hinsichtlich der Gefährlichkeit des Feinstaubs und der Reizgase meines Wissens überhaupt nicht. Es wird permanent ein ähnliches Studiendesign wiederholt, was den Wahrheitsgehalt der Hypothese in keiner Weise erhöht. Trotzdem werden die – in etwa ähnlichen – Ergebnisse als weitergehender Beweis für die Richtigkeit der Hypothese angesehen.»
Kurz gesagt, solche Studien sind methodologisch fragwürdig ...
Die Verfasser der Umweltbundesamts-Studie sind noch nicht einmal promoviert und in der Wissenschaft völlig unbekannt. Dieses Werk würde an meiner Statistikfakultät mit Ach und Krach als Masterarbeit durchgehen. In der aktuellen NO2-Debatte in Deutschland haben etwa 99 % aller Wissenschaftler die gleiche Meinung – sie kommen nur in den Medien kaum zu Wort. Und auch in vielen anderen Umweltdebatten kommen in den deutschen Medien haufenweise Amateure zu Wort, die von der Sache nur beschränkte Ahnung haben.
Und was kann man dagegen tun?
Kriminellen Panikmachern wie der Deutschen Umwelthilfe das Handwerk legen, indem man ihr die öffentliche Förderung und die Gemeinnützigkeit entzieht.
Die Deutsche Umwelthilfe beschreibt sich auf ihrer Homepage als gemeinnützige, nicht politische Organisation, die sich für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen einsetzt. Was macht sie in Ihren Augen kriminell?
Extrem unwissenschaftlich und in diesem Kontext tatsächlich kriminell ist das Aufzäumen der Argumentation vom gewünschten Ergebnis her: Autos müssen weg, Kernkraft muss weg, nicht-biologische Landwirtschaft muss weg. Zum Erreichen dieser Ziele werden Daten manipuliert, dass es nur so kracht.
Ein Beispiel?
Mal was politisch völlig Harmloses: Laut der Umwelthilfe landen in Deutschland jedes Jahr 18 Millionen Tonnen Lebensmittel auf dem Müll. Dass darunter auch grosse Mengen ungeniessbarer Abfälle sind, wird nicht erwähnt.
In Ihrem Vortrag, den Sie am aha-Festival in Luzern halten werden, beantworten Sie die Frage, wovor wir wirklich Angst haben sollten. Können Sie uns im Vorfeld etwas dazu verraten?
Das ist nur allzu einfach: fettes Essen, Alkohol und Nikotin.
Weil daran noch immer die meisten Menschen sterben?
Sagen wir so: Dadurch gehen die meisten Lebensjahre verloren. Sterben tun wir alle sowieso. Die einzige Frage ist, wie viel länger man durch Vermeidung gewisser Risiken leben könnte.
Ess- und Trinkgewohnheiten liegen aber doch grösstenteils in unserer Hand. Nicht so direkten Einfluss haben wir dagegen auf die grossen gesellschaftlichen Fragen, die generell für Unbehagen sorgen, sagen wir mal, Migration, sozialer Abstieg, Klimaerwärmung – was ist damit?
Da adressieren Sie einen wichtigen Punkt: Risiken, die wir selbst in der Hand haben, interessieren uns weit weniger als von aussen übergestülpte. Für die Höhe des Risikos ist das aber egal.
Angst ist ein Gefühl. Kann sie überhaupt in rationale Handlung überführt werden, also wichtige gesellschaftliche Veränderungen hervorbringen?
Angst ist in der Tat für unsere Spezies geradezu überlebenswichtig. Unsere furchtlosen Vorfahren, die vor dem Säbelzahntiger nicht wegliefen, wurden aufgefressen. Man muss sich nur vor den wirklich fürchtenswerten Dingen fürchten. Und das passiert systematisch nicht.
Systematisch?
Ja, dann gucken Sie doch mal, wie viele Menschen in Ihrem persönlichen Umfeld sich vor fettem Essen fürchten? Oder vor einem Unfall auf der Autobahn? Oder davor, im Haushalt von der Leiter zu fallen?
Und wie könnte man die Aufmerksamkeit auf die «fürchtenswerten Dinge» lenken?
Naja, es gibt ja schon die Horrorbilder auf Zigarettenschachteln. Obwohl ich glaube, dass der Konsum noch mehr abnähme, wenn man beweisen könnte, dass Zigaretten dick machen.
Sie haben sich vor allem mit den Ängsten der Deutschen befasst, können Sie auch etwas über jene der Schweizer sagen?
Soweit ich das anhand meiner Schweizer Freunde beurteilen kann, betrachtet man die Welt da viel gelassener. Und vor allem: Es fehlt das deutsche Sendungsbewusstsein, mit dem bei uns so viele Untergangspropheten die Schulen verpesten und das Land terrorisieren.
Ihre persönliche Sorge scheint der deutschen Sprache zu gelten. Man hört, Sie bekommen Magengeschwüre, wenn Jil Sander von der «magic ihres styles» spricht, und rasten aus, wenn Sie «Sales» statt «Ausverkauf» lesen. Fürchten Sie sich vor dem Untergang der deutschen Sprache?
Das Deutsche wird nicht untergehen, könnte aber zu einer reinen Feierabendsprache werden, in der man weder Literatur noch Wissenschaft betreiben kann.
Und was uns alle klammheimlich am meisten interessiert: Wie haben Sie bloss Ihren Schnauz so schön hingekriegt?
Da haben Sie aber ein altes Foto. Der ist jetzt ganz schön grau geworden.