Wer die Vergangenheit nicht kennt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen. Die Warnung des spanischen Philosophen George Santayana ist aktueller denn je, denn die Vergangenheit droht in Vergessenheit zu geraten. Die Zahl der Studenten mit Hauptfach Geschichte hat seit 2004 abgenommen, von 4300 auf 2650. Das ist der tiefste Wert seit über 30 Jahren.
Die Entwicklung ist umso erstaunlicher, als die Anzahl Studierender schweizweit wächst. Zudem haben die Hochschulen vielerorts die Lateinpflicht abgeschafft. Trotzdem werden die Geschichtsstudenten immer weniger – mit Folgen für die Fachrichtungen. Universitäten bieten Spezialisierungen wie «Schweizer Geschichte» längst nicht mehr im Hauptfach an.
Die Digitalisierung dürfte den Trend verstärken, denn die Wirtschaft lechzt nach Fachkräften. Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (MINT) gewinnen an Bedeutung. «Wir beobachten seit mehreren Jahren eine Verschiebung von den Geisteswissenschaften zu den MINT-Fächern», sagt Michael Hengartner, Rektor der Universität Zürich.
Historiker landesweit warnen vor einem Zerfall des Fachs. Sie fürchten eine historische Amnesie, denn auch in der Volksschule büsst die Geschichte an Stellenwert ein. Mit dem neuen Lehrplan 21, der in allen Deutschschweizer Kantonen eingeführt wird, verschwindet das Fach aus dem Stundenplan. Stattdessen wird Geschichte unter der Rubrik «Räume, Zeiten, Gesellschaften» unterrichtet.
Es ist der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die vor über 15 Jahren begonnen hatte. Seither wurden Lektionen abgebaut und mit anderen Bereichen vermischt. Im Kanton Aargau bot die Bezirksschule früher 320 Lektionen Geschichte pro Jahr an, im neuen Lehrplan sind es noch halb so viele. Andere Kantone weisen einen ähnlichen Trend auf.
Mario Andreotti hat 30 Jahre Geschichte an Kantonsschulen in St.Gallen und Uri unterrichtet. Er spricht sogar von einem regelrechten Niedergang des Schulfachs: «Das Geschichtswissen der Jugendlichen nimmt drastisch ab.»
Wichtige historische Ereignisse seien nur noch bruchstückhaft bekannt. Als Beispiel nennt er eine Studie aus Deutschland. Sie hat ergeben, dass nur jeder Dritte weiss, wer die Berliner Mauer errichtet hat. Ausserdem sei vielen nicht klar, ob das Nazi-Regime eine Diktatur war. «Ich befürchte, in der Schweiz wären die Ergebnisse nicht besser», sagt er.
Bildungslücken betreffen nicht nur die jüngere Historie, sondern auch die Schweizer Geschichte. Linke wie Rechte beanspruchen die Deutungshoheit für sich. Gestritten wird über fast alles: Jahreszahlen, Wendepunkte oder Schlachten wie in Marignano. Was ist Mythos? Was ist Fakt? Historische Begebenheiten weichen politischen Grabenkämpfen.
Auch Mario Andreotti hält die Konzentration auf MINT-Fächer für die Ursache der Wissenslücken. Hinzu komme ein Mangel an Fachlehrern in den Sekundarschulen. Schuld sei aber auch der neue Lehrplan 21, der den Schwerpunkt auf Kompetenzen legt: «Diese Fokussierung schadet besonders dem Fach Geschichte, wo es vorwiegend um Fakten geht.»
In einem Beitrag für das «St.Galler Tagblatt» bemängelt der Professor, dass Geschichte in vielen Schulen nicht mehr chronologisch unterrichtet wird, sondern in Längsschnitten zu Themen wie «Krieg und Frieden» oder «Migration». «Das dient angeblich dem tieferen Verständnis, fördert in Wirklichkeit aber Unwissenheit und Oberflächlichkeit», schreibt er. Das zeitliche Nacheinander weiche einem Durcheinander. Die Folge: Die Schüler seien immer weniger in der Lage, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen.
Das werde gerade deutlich: «Der Nationalismus, wie wir ihn zurzeit in den USA, Russland oder der Türkei erleben, gilt heute wieder als Lösung aller Probleme», sagt Andreotti. Dabei sei es genau dieser Nationalismus gewesen, der Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vergiftet und zu zwei Weltkriegen und zum Holocaust geführt habe. Gegen die historische Amnesie helfe nur ein chronologischer, durchgehender und auf Fakten basierter Unterricht.
Allerdings sind nicht alle Professoren so pessimistisch wie Andreotti. Der Lehrplan 21 werde viele Probleme lösen, glaubt Peter Gautschi, Professor an der PH Luzern und Experte in der Arbeitsgruppe des Lehrplans 21. Zwar hat auch er erfolglos mehr Geschichtsstunden gefordert, glaubt die Schulen aber auf dem richtigen Weg.
Gerade der Fokus auf die Kompetenz lasse die Jugendlichen Zusammenhänge besser verstehen. Um dieses Verständnis zu fördern, hat Gautschi gemeinsam mit Kollegen ein neues Lehrmittel namens «Zeitreise» verfasst, das auf den neuen Lehrplan ausgerichtet ist.
Und noch ein Punkt stimmt ihn optimistisch: An den boomenden Pädagogischen Hochschulen würden sich viele angehende Lehrer für die Fachrichtung Geschichte begeistern. Deshalb glaubt Gautschi, dass der Stellenwert in den Schulen erstmals seit Jahren wieder steigen werde. (aargauerzeitung.ch)