Frank Urbaniok, 56, könnte nun alles etwas ruhiger angehen. Im Sommer trat er wegen einer Krebserkrankung nach 21 Jahren als Chefarzt des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes des Kantons Zürichs zurück. Doch er eilt mit riesigen Schritten durch die weissen Gänge seiner Gemeinschaftspraxis in Pfäffikon SZ und nimmt den Schwung gleich mit ins Gespräch.
Herr Urbaniok, Sie haben sich intensiv mit dem Fall Rupperswil befasst. Weshalb?
Frank Urbaniok: Es ist ein aussergewöhnlicher und schrecklicher Fall, der mich, die ganze Schweiz und teilweise auch das Ausland bewegt hat. Und es ist ein Fall, in dem einmal mehr die lebenslängliche Verwahrung diskutiert wird.
Das Lenzburger Bezirksgericht hat den Vierfachmörder Thomas N. zu einer ordentlichen, aber nicht zu einer lebenslänglichen Verwahrung verurteilt. Der Grund war, dass zwei Psychiater den Täter als therapierbar eingestuft hatten. Können Sie das nachvollziehen?
Nein. Im Fall Rupperswil haben die Gutachter festgestellt, dass der Täter eine narzisstische oder eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung sowie eine Pädophilie hat. Meine Kritik ist: Mit den psychiatrischen Diagnosesystemen kann man Aussagen über eine Krankheit machen, aber nicht über die Gefährlichkeit des Täters. Dafür müsste man nach seinen Eigenschaften suchen, die ein Risiko darstellen. Mit der Persönlichkeitsstörung und der Pädophilie kann man das Delikt aber nicht erklären. Es bleibt offen, weshalb er die vier Menschen ermordet hat. Wenn man nicht weiss, warum jemand eine Tat begangen hat, dann weiss man auch nicht, was sich ändern müsste, damit das Risiko für einen Rückfall sinkt. Deshalb kann man nicht sagen, dass er therapierbar ist.
Thomas N. hat vor Gericht erklärt, sein Motiv sei der sexuelle Missbrauch eines Buben gewesen. Danach habe er die Familie umgebracht, um die Tat zu vertuschen. Die Psychiater erklären dies teilweise mit der Persönlichkeitsstörung.
Lassen wir an dieser Stelle dahingestellt, ob diese Aussage in Anbetracht der Vorgehensweise des Täters glaubhaft ist. Jedenfalls hat auch einer der Gutachter selbst darauf hingewiesen, dass die Tötung der vier Menschen mit den psychiatrischen Diagnosen nicht erklärt werden könne. Wenn die diagnostizierte Persönlichkeitsstörung der Grund für das Delikt wäre, dann gäbe es in der Schweiz jede Woche eine solche Tat. Das ist zum Glück nicht der Fall. Dasselbe gilt für die Pädophilie. Einige Pädophile begehen Sexualdelikte, aber sie bringen keine Menschen um.
Die Gutachten wurden von renommierten Kollegen verfasst, von Josef Sachs, ehemaliger Chefarzt der Aargauer Psychiatrischen Dienste, und Elmar Habermeyer, Direktor der Zürcher Klinik für Forensische Psychiatrie. Halten Sie die Gutachter für nicht seriös?
Ich schätze beide Gutachter. Sie sind sehr erfahren und für ihre sorgfältige Arbeitsweise bekannt. Ich kritisiere lediglich einen ganz bestimmten Punkt. Die Gutachter stufen den Täter als therapierbar ein und rechnen mit einem Therapieerfolg in einem Zeitraum von «mindestens fünf» oder «fünf bis zehn Jahren». Diese Feststellung ist aus meiner Sicht fachlich nicht abgestützt. Solange man die Tötung nicht erklären kann, kann man nichts über die Therapierbarkeit sagen. Deshalb kann man derzeit eine dauerhafte Untherapierbarkeit nicht ausschliessen. Ich kann das Problem an einem einfachen Beispiel erklären.
Gerne.
Man könnte einen Allgemeinmediziner beauftragen, den Täter zu untersuchen. Der Arzt würde dann vielleicht feststellen, dass der Täter einen hohen Blutdruck hat. Diesen könne man mit Medikamenten therapieren. Das stimmt. Aber wenn der hohe Blutdruck keinen Zusammenhang zur Gefährlichkeit hat, kann aus diesem Befund nicht eine Therapie zur Verminderung dieser Gefährlichkeit abgeleitet werden. Wenn die Diagnosen nicht in der Lage sind, die Tötungen hinreichend zu erklären, dann muss ich als Gutachter sagen: Ich kann weder zur Therapierbarkeit noch zur dauerhaften Untherapierbarkeit irgendetwas sagen.
Die Staatsanwältin, die eine lebenslängliche Verwahrung verlangt hat, argumentierte vor der ersten Instanz ähnlich. Sie sagte, es sei keine psychische Störung vorhanden, die zu den Tötungsdelikten geführt habe. Folglich bestehe kein Therapiebedürfnis für den Angeklagten.
Im Kern hat sie damit ein berechtigtes Problem angesprochen.
Sie waren 2004 in der Arbeitsgruppe zur Umsetzung der Verwahrungsinitiative. Das Bundesgericht hat bisher alle angefochtenen lebenslänglichen Verwahrungen aufgehoben. Zu Recht?
Es gibt einen Fehler in der Anwendung der lebenslänglichen Verwahrung, und den hat das Bundesgericht zementiert. Es verlangt, dass man eine dauerhafte Untherapierbarkeit bis zum Lebensende eines Täters mit 100-prozentiger Sicherheit feststellen können muss. Das ist der falsche Ansatz und entspricht nicht der Umsetzung, wie sie der Bundesrat und wir in der Arbeitsgruppe festgehalten haben. Wenn man so argumentiert, wird man den Paragrafen nie anwenden können. Darf ich nochmals ein Beispiel machen?
Nur zu.
Stellen Sie sich vor, Sie betreiben ein Atomkraftwerk. Sie haben ein Kühlsystem, das Sie durch eine sicherere Version ersetzen möchten. Nun kommt die Genehmigungsbehörde und stellt folgende Frage: Können Sie mit 100-prozentiger Sicherheit sagen, dass es mit dem alten Kühlsystem eine Kernschmelze gibt? Sie würden antworten: «Nein, zu 100 Prozent kann ich es nicht sagen, aber es besteht eine sehr grosse Gefahr.» Dann würde Ihnen die Behörde verbieten, das bessere Kühlsystem zu beschaffen, weil es ja auch ohne diese Massnahme gut gehen könnte.
Was heisst das für die lebenslängliche Verwahrung?
Sie ist nur anwendbar, wenn man sie als eine Konstellation begreift, die durch drei gleichwertige Merkmale bestimmt ist: eine extrem grosse Gefährlichkeit, eine extrem hohe Rückfallwahrscheinlichkeit und schlechte Therapieaussichten. Also die denkbar ungünstigste Gesamtkonstellation.
Und warum funktioniert das nicht?
Weil das Bundesgericht ein Merkmal herausbricht und dann für dieses Einzelmerkmal auch noch eine absolute Aussage fordert. «Extrem schlecht» ist dann nicht schlecht genug. Die Therapierbarkeit müsse lebenslang 100-prozentig ausgeschlossen werden. So wird die lebenslängliche Verwahrung ad absurdum geführt. Man kann nicht einmal mit 100-prozentiger Sicherheit ausschliessen, dass morgen die Sonne explodiert.
Im Strafrecht ist der Entscheid aber schwieriger als in anderen Bereichen. Man würde einen Menschen aufgrund einer Risikokalkulation für immer wegsperren.
Das stimmt. Die Gesellschaft hat sich mit der Annahme der Verwahrungsinitiative aber dafür entschieden, in bestimmten Extremfällen das Restrisiko mit einer lebenslänglichen Verwahrung weitgehend auszuschliessen – mit allen rechtsstaatlichen Problemen, die damit verbunden sind. Dieser Entscheid ist zu akzeptieren.
Bei älteren Wiederholungstätern ist die Prognose einfacher. Bei einem jungen Ersttäter wie Thomas N., 35, scheint sie aber tatsächlich fast unmöglich zu sein.
Das ist ein Argument. Es hängt aber immer vom Einzelfall ab. Es gibt Ersttäter, die eine Tat schon seit Jahren im Kopf hatten. Das sind Extremfälle. Aber genau um die geht es bei der Verwahrungsinitiative. Nehmen wir zum Beispiel den Fall Lucie …
… das Aargauer Obergericht hatte in diesem Fall 2012 eine lebenslängliche Verwahrung angeordnet, die das Bundesgericht 2013 wieder aufhob. Die Obergerichtsverhandlung wurde übrigens vom gleichen Richter geleitet, der am Donnerstag den zweitinstanzlichen Rupperswil-Prozess führen wird.
Genau. Die Gutachter sagten in diesem Fall, sie könnten eine Prognose für zwanzig Jahre erstellen. Der Zeitraum darüber hinaus sei aber völlig unkalkulierbar. Das Bundesgericht urteilte deshalb, die Anforderungen für eine dauerhafte Untherapierbarkeit seien nicht erfüllt. Aus meiner Sicht ist die Prognose der Gutachter in diesem Fall nicht logisch. Wenn man sich zutraut, eine Prognose für zwanzig Jahre zu machen, kann man nicht sagen, dass das Jahr 21 völlig unkalkulierbar sei. Wenn man davon ausgeht, dass sich jemand während 20 Jahren keinen Millimeter bewegt, dann kann man davon ausgehen, dass eine Veränderung im Jahr 21 nicht wahrscheinlicher ist. Das Beispiel zeigt: Die Kombination einer absoluten Aussage mit konkreten Jahreszahlen ist willkürlich und macht keinen Sinn.
Im Fall Rupperswil wurde der Täter zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt. Solange er als gefährlich eingestuft wird, kommt er nicht frei. Der einzige Unterschied zu einer lebenslänglichen Verwahrung ist, dass die Gefährlichkeit regelmässig überprüft wird. Weshalb genügt diese Form von lebenslänglich nicht?
Wenn alles gut läuft, besteht tatsächlich kein Unterschied. Die Initianten der lebenslänglichen Verwahrung hatten aber ein Misstrauen gegenüber der Praxis. Die ist in der Schweiz nicht überall gleich, und sie kann sich im Laufe der Jahre ändern. In den 1990er-Jahren wurden lebenslänglich Verurteilte meist nach 15 Jahren aus der Haft entlassen. Verwahrte kamen im Schnitt nach drei Jahren frei. Das Stimmvolk entschied deshalb, den Spielraum bei extrem gefährlichen Tätern einzuengen.
Sie selber haben zwei Jahrzehnte lang die Gefährlichkeit von Straftätern beurteilt. Haben Sie kein Vertrauen in Ihre Nachfolger?
Doch, natürlich. Aber hier geht es um etwas anderes. Ich war kein Verfechter der Verwahrungsinitiative, konnte das Anliegen aber immer gut verstehen. Dann hat das Volk entschieden und damit ist für mich klar: der Abstimmungsentscheid sollte umgesetzt werden. Es ist für das Vertrauen in unsere Demokratie schädlich, wenn er in der Praxis ausgehebelt wird.
Zum Fall Rupperswil haben Sie einen Fachbeitrag geschrieben, der in den nächsten Tagen in einer juristischen Zeitschrift erscheinen wird. Sie haben den Text vorab den Gutachtern und der Staatsanwältin geschickt. Wie fielen die Reaktionen aus?
Ich sage nur so viel: Mein Beitrag hat zu intensiven Diskussionen geführt.
Die öffentliche Debatte wird noch intensiver werden. Im Sommer sind Sie aus gesundheitlichen Gründen zurückgetreten. Sie scheinen aber streitlustig zu sein wie eh und je.
Na ja, «diskussionsfreudig» würde mir als Begriff besser gefallen. Aber im Ernst: Ich bin von der Persönlichkeit her grundsätzlich einer, der sich gerne einmischt. Meine Krankheit war eine gravierende Zäsur in meinem Leben. Meine Zukunft ist jetzt mit viel mehr Unsicherheit behaftet, mein Arbeitsvolumen musste ich drastisch reduzieren. Aber ich habe mich in meiner Persönlichkeit nicht verändert.
Bedeutet ein reduziertes Arbeitsvolumen in Ihrem Fall, dass Sie statt 150 Prozent nur noch 100 arbeiten?
Nein, viel weniger. Was ich früher an einem Tag erledigt habe, mache ich jetzt in einer Woche. Es war meine persönliche Entscheidung, dass mein Leben in den vergangenen zwanzig Jahren durch meine Arbeit dominiert war. Das hatte Vor- und Nachteile. Durch meine Krankheit hat sich das Verhältnis umgekehrt. An erster Stelle kommen jetzt mein Privatleben und Erholungszeiten, den Rest widme ich der Arbeit. Ab und zu liegt da auch ein Artikel drin, wenn mir ein Thema unter den Nägeln brennt.
Sie sind ein Spezialist in Prognosen. Welche geben Sie sich selber?
Das mache ich nicht. Zu Beginn meiner Krankheit sah es sehr schlecht aus. Jetzt nach zwei Jahren habe ich eine bessere Chance. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Mein Leben ist komplizierter geworden und meine Zukunft unsicherer. Aber ich will nicht klagen und muss es so nehmen, wie es kommt. Ich weiss, dass ich bis hierhin viel Glück hatte. Ich weiss aber auch, dass ich in Zukunft noch viel Glück brauche.