Das Fazit der Prozessbeobachter im Fall Rupperswil war nach dem ersten Verhandlungstag einhellig: Eine lebenslängliche Verwahrung des mutmasslichen Vierfachmörders Thomas N. komme nicht mehr infrage. Denn beide befragten Gutachter attestierten ihm, therapiefähig zu sein. Das ist die Voraussetzung für diese Massnahme, bei der es nicht um Strafe geht, sondern um die Sicherheit der Bevölkerung.
Doch Staatsanwältin Barbara Loppacher überrascht am zweiten Prozesstag alle: In ihrem Plädoyer fordert sie eine lebenslängliche Verwahrung. Mit der diagnostizierten Persönlichkeitsstörung und der Pädophilie liesse sich nur ein Teil der Tat erklären: die sexuellen Übergriffe – nicht aber die Tötungen. Deshalb könne logischerweise auch keine Behandlung erfolgen.
Die Staatsanwältin übt Druck aus: «Sie, sehr geehrte Richterinnen und Richter, haben es in der Hand, ob der Beschuldigte wieder einmal in die Freiheit entlassen wird.» Eine lebenslängliche Freiheitsstrafe genügte, wenn man mit dieser Strafe «wirklich lebenslänglich im Gefängnis bliebe». In der Schweiz sei das aber nicht so: Eine Entlassung sei in fünfzehn Jahren, manchmal sogar in zehn Jahren möglich.
Bisher hob das Bundesgericht alle angefochtenen lebenslänglichen Verwahrungen auf, die von niederen Instanzen angeordnet worden waren. Es behandelte aber noch nie die Frage, ob ein Täter untherapierbar sei, weil er keine für die Tat relevante Störung habe. Opferanwalt Stefan Meichssner bezeichnet die Argumentation der Staatsanwältin als «neuen interessanten Ansatz». Er sagt: «Vielleicht führt er ja am Schluss dazu, dass sogar die Bundesrichter einmal ihre Meinung überdenken.»
Die Staatsanwältin zitiert in ihrem Plädoyer den Basler Strafrechtskommentar von Strafrechtsprofessorin Marianne Heer. Auf Anfrage dieser Zeitung äussert sich Heer nun persönlich: «Mir scheint die Argumentation der Staatsanwältin etwas gekünstelt.» Selbstverständlich müsse ein Kausalzusammenhang zwischen einer Störung und einer Tat vorliegen. Die Gutachter seien aber verpflichtet, darauf hinzuweisen, falls dieser Zusammenhang fehle. Das taten sie nicht explizit.
Deshalb sagt Heer: «Das Gericht darf nicht einfach vom Gutachten abweichen, das ist Praxis des Bundesgerichts.» Bei den Psychiatern Sachs und Habermeyer handle es sich zudem um «äusserst profilierte und erfahrene Fachpersonen».
Die Staatsanwältin hingegen hält wenig von der Arbeit der Psychiater. Sie illustriert dies in ihrer Replik am Beispiel der Maturnote von N., die gemäss Habermeyer eine 4,5 und gemäss Sachs eine 4,7 war. Die Staatsanwältin: «Das zeigt, dass der Beschuldigte den Gutachtern jenen Teil von sich zeigte, den er offenbaren wollte.»
Als sie bei den Psychiatern nachgefragt habe, ob ein Zusammenhang zwischen der Persönlichkeitsstörung und der Tat bestehe, habe Habermeyer «herumgedruckst». Sachs sagte: «Im Gegensatz zu den sexuellen Handlungen mit einem Kind, die in direktem Zusammenhang mit der Pädophilie stehen, kann die Vierfachtötung tatsächlich nicht auf eine psychische Persönlichkeitsstörung zurückgeführt werden.»
Dabei stellt sich die Frage, wie die unterschiedlichen Tatkomponenten zusammenhängen. Es sind deren drei: der sexuelle Missbrauch eines Buben, der Raubüberfall und der Vierfachmord. Verteidigerin Renate Senn stützt sich in ihrem dreistündigen Plädoyer ebenfalls auf Sachs und sagt, dass das Sexualdelikt die Anlasstat gewesen sei. Thomas N. habe das Haus der Familie aufgesucht, weil er sexuell am Buben interessiert gewesen sei.
Mit dem Raubüberfall habe er sich vor allem selber einreden wollen, dass es ihm um Geld und nicht um Sex gehe. Die Tötungen hingegen seien «Begleiterscheinungen»: «Sie dienten lediglich zur Spurenbeseitigung.» Die Verteidigerin sagt, diese Aussage habe sie nicht selber erfunden, sie stamme von Sachs. Ebenso wie dieser Satz: «Ohne die Pädophilie hätten weder die Sexualdelikte noch die Vermögensdelikte noch die Tötungsdelikte stattgefunden.»
Die Verteidigerin sagt: «Er hat die Opfer nicht gequält und ihnen nicht mehr Schmerzen zugefügt als nötig. Herr N. hat nicht aus Lust getötet.» Er habe getötet, weil er das Gesicht nicht habe verlieren wollen. Er habe die Tat vertuschen wollen. Sie beschreibt N. als einen Mann voller Zweifel. Er habe während seiner Tat ständig gestaunt, dass er nicht aufflog. Er habe dauernd damit gerechnet, ja sogar gehofft, dass die Polizei eingreife. Doch es sei erstaunlich einfach gewesen, die Opfer zu manipulieren.
Senn hält nicht einmal eine ordentliche Verwahrung für nötig und beantragt eine vollzugsbegleitende ambulante Massnahme. Diese werde regelmässig überprüft und könne bei Problemen immer noch in eine stationäre Massnahme oder sogar eine Verwahrung umgewandelt werden. Die Verteidigerin betont: «N. ist nicht gefährlicher als andere Gefängnisinsassen, die nicht verwahrt sind. Er ist folglich gleich zu behandeln.»
Die Verteidigerin geht davon aus, dass die Mehrheit der Bevölkerung für eine lebenslängliche Verwahrung von N. sei: «Das Volk erwartet einen derartigen Entscheid vom Gericht. Der Volkswille und der Volkszorn sind aber nicht das, was zählt.» Sonst sei die Gewaltentrennung im Eimer. Der Fall möge noch so spektakulär sein, doch man müsse die rechtlichen Voraussetzungen für eine Verwahrung prüfen. Diese seien nicht erfüllt.