Nun haben zwölf Schweizer Strafverteidiger eine Stellungnahme verfasst, mit der sie sich hinter ihre Aargauer Kollegin stellen. Zu den Unterstützern zählen Matthias Fricker, der den Lucie-Mörder verteidigt hat, und der Basler Strafrechtsprofessor Niklaus Ruckstuhl. Als Sprecher der Gruppe tritt der Zürcher Thomas Fingerhuth auf, der die Kindermörderin von Horgen verteidigt hat oder den Kosovaren aus Pfäffikon, der seine Frau und die Sozialvorsteherin erschossen hatte.
Herr Fingerhuth, nach dem Rupperswil-Prozess steht nun Pflichtverteidigerin Renate Senn in der Kritik. Haben Sie Mitleid mit ihr?
Thomas Fingerhuth: Etablierte Medien und anonyme Blogger haben keine Hemmung, Kollegin Senn und ihre Arbeit öffentlich herabzusetzen und sie persönlich zu verunglimpfen. Dies grenzt an Rufmord und ist für jeden Anwalt eine berufliche und persönliche Katastrophe. Dass nun auch das Gericht in dieses Horn stösst, ist purer Populismus. So etwas habe ich in der Schweiz noch nie gesehen. Es geht nicht mehr nur um Frau Senn, sondern um die Strafverteidiger der Schweiz generell und ihre Rolle im Justizsystem. Was wir jetzt erleben, ist nicht nur eine Diffamierung von Frau Senn, sondern von allen Strafverteidigern, die ihren Job ernst nehmen.
Einer der Ersten, der Senn öffentlich angegriffen hat, waren aber Sie, Herr Fingerhuth. Als Frau Senn vor zwei Jahren das Mandat annahm, sagte sie, sie werde im Moment nicht das «Sprachrohr» des Tatverdächtigen sein. Genau dies sei aber ihre Aufgabe, kritisierten Sie danach in einem Interview. Bereuen Sie das?
Heute würde ich die Antwort anders formulieren. Zum Inhalt stehe ich aber. Ich habe mit Frau Senn danach darüber gesprochen und ihr dies auch so gesagt.
Am Anfang trat Frau Senn zu defensiv auf. Vor Gericht dann aber zu offensiv. Das Lenzburger Bezirksgericht wirft ihr vor, sie habe die Opfer «verhöhnt».
Das Gericht ist in dieser Frage zu wenig differenziert vorgegangen und hat sich eine «Blick»-Schlagzeile zu eigen gemacht. Es kann sein, dass ein Richter mal nach der Verhandlung auf einen Anwalt zugeht und sagt: «Das habe ich jetzt nicht gut gefunden, wie Sie das gesagt haben. Was haben Sie sich dabei gedacht?» Aber jemanden in der Öffentlichkeit so hinzustellen, wie es das Gericht getan hat, ist respektlos. Es geht darum, dass man ansatzweise Verständnis dafür hat, was die Arbeit einer amtlichen Verteidigerin ist.
Ist es die Aufgabe einer amtlichen Verteidigerin, die Opfer zu verhöhnen, falls der Klient das verlangt?
Die Frage unterstellt, dass Frau Senn die Opfer verhöhnt habe. Das hat sie nicht getan, auch wenn ihr der «Blick» und das Gericht dies zu Unrecht unterstellen.
In ihrem Plädoyer sagte Senn, die Opfer hätten es N. leicht gemacht, die Tat auszuführen. Das Gericht interpretiert dies als Verhöhnung.
Diese Interpretation ist nicht zulässig. Sie sagte ja nicht, die Opfer seien selber schuld. Sie hat das Verhalten der Opfer aus der Perspektive ihres Mandanten geschildert. Dies hat nichts mit Verhöhnung der Opfer zu tun.
Für den Gipfel der Kritik sorgt ein Streit um Senns Honorarrechnung. Der Aargauer Anwaltstarif beträgt 200 Franken pro Stunde. Frau Senn verlangte 220 Franken. Weshalb sollte sie mehr verdienen als ihre Kollegen?
Also in Zürich beträgt der Ansatz 220 Franken. Wenn man mehr in Rechnung stellen will, muss man das begründen, zum Beispiel mit besonderen fachlichen Qualifikationen. Man muss aber auch sehen: Auch 220 Franken sind ein sehr tiefer Tarif. Zudem ist Rechtsanwältin Senn Fachanwältin für Strafrecht und wurde von der Staatsanwaltschaft als amtliche Verteidigerin eingesetzt.
Das Gericht kritisiert, Frau Senn habe zu viele Stunden in Rechnung gestellt für Telefonate mit der Mutter des Mörders, für Fachaustausch mit anderen Anwälten und für Medienlektüre.
Diese Honorarrechnung ist ganz sicher nicht überhöht. Was das Gericht hier macht, ist extrem arrogant. Die Richter haben das Gefühl, sie wüssten, was ein amtlicher Verteidiger zu tun hat und was nicht. Versetzen wir uns in die Situation der Mutter, deren Sohn diese Tat begangen hat. An wen soll sie sich wenden, wenn nicht an die Verteidigerin? Sie nimmt damit der Staatsanwaltschaft und der Polizei Arbeit ab. Zehn Stunden sind im Verhältnis zum gesamten Verfahren wenig.
Das Gericht korrigiert die kritisierte Rechnung nicht, sondern streicht stattdessen das noch nicht in Rechnung gestellte Honorar für die Hauptverhandlung.
Das ist pure Willkür. Wenn das Gericht findet, einzelne Positionen der Honorarnote seien nicht gerechtfertigt, dann soll es diese herausstreichen. Das Vorgehen des Gerichts ist eines Rechtsstaates nicht würdig.
Anwälte wie Frau Senn und Sie, Herr Fingerhuth, verdienen mehr Geld als die Durchschnittsbevölkerung. Ist in diesem Lohn nicht auch inbegriffen, dass Sie sich überdurchschnittlich viel Kritik anhören müssen?
Doch. Wer diesen Job macht, braucht ein dickes Fell. Aber irgendwo erreicht die Kritik eine Grenze des Erträglichen. Wenn der fehlende Respekt und die fehlende Anerkennung gegenüber Strafverteidigern Schule machen, dann wird es schwierig, in Zukunft genügend Leute für diese Arbeit zu finden. (aargauerzeitung.ch)